Symbolbild - „Hürden, das ist viel Technik“ - Foto: Horst Mlde
Hürdensprinterin Schneider: Angriff auf die Zahl vor dem Komma – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
So schnell wie Rosina Schneider war keine der großen deutschen Hürdensprinterinnen mit 19 Jahren – dabei war ihr Anlauf kurz. Nun will sie die 13-Sekunden-Schallmauer durchbrechen
Als Favoritin geht die Hürdensprinterin Rosina Schneider nicht in die deutsche Hallenmeisterschaft an diesem Wochenende in Leipzig. Doch einen Namen gemacht hat sich die U-20-Doppel-Europameisterin von Jerusalem 2023 schon in der Weltklasse der Leichtathletik.
Zum Saisoneinstieg, als sie in Sindelfingen die 60 Meter Hürden in 8,23 Sekunden lief, elf Hundertstelsekunden besser als im Vorjahr, schickte der jamaikanische Coach Reynaldo Walcott Glückwünsche.
Als die Neunzehnjährige im Dezember bei ihm in Kingston mittrainierte, fiel sie seiner Meisterathletin Shelly-Ann Fraser-Pryce, drei Mal Olympiasiegerin im Sprint und fünf Mal Weltmeisterin, so angenehm auf, dass sie eine Einladung zum Weihnachts-Dinner erhielt. Immer noch klingt der Athletin aus Wiesenstetten, einem Ortsteil der 450-Einwohner-Gemeinde Empfingen zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, der Gruß des dreimaligen Hürdensprint-Weltmeisters Grant Holloway im Ohr, der ihr bei einer Begegnung in Florida zurief: „Hi Rosie, how are you?“
Rosina Schneider ist auf dem Sprung.
Mit den 13,06 Sekunden, in denen sie in Israel siegte, ist sie die Nummer zwei der deutschen Jahresbestenliste. Keine der großen deutschen Hürdensprinterinnen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte hatte in ihrem Alter schon solch ein Tempo. Doch der einzige Titel, den sie in Leipzig erwartet, ist ihre Auszeichnung als Jugend-Leichtathletin des Jahres am Sonntag. Im Meisterschaftsrennen der Erwachsenen am Samstagabend (18.30 Uhr) wird sie die Jüngste sein.
13 Sekunden sind die Schallmauer
Erst vor einem Jahr entschied sich die Läuferin, aus dem Hürdentraining, das einmal pro Woche anstand, den Schwerpunkt ihrer Saison zu machen. U-20-Europameisterin wurde sie zu ihrer eigenen Überraschung. Ihre zweite Goldmedaille in Jerusalem gewann sie mit der Sprintstaffel. Immer noch ist sie im Herzen Sprinterin. „Hürden, das ist viel Technik“, sagt sie: „Aber wenn man nicht schnell ist, bringt das einem auch nichts.“ Auf den sechzig Meter mit fünf Hürden will sie persönliche Bestzeit laufen: „Alles unter 8,23 ist ein Erfolg.“
„Bisher ging es immer darum, die Zahl nach dem Komma zu verändern“, sagt sie im Hinblick auf den Sommer: „Nun geht es darum, die Zahl vor dem Komma zu ändern.“ 13 Sekunden sind die Schallmauer. Sechs Hundertstelsekunden ist sie davon entfernt. Unterbietet sie die Marke um zwei Hundertstel, hat sie die Qualifikationsnorm für die Europameisterschaft in Rom.
Die Olympischen Spiele von Paris sechs Wochen später sind kein Thema. Die Qualifikationsnorm liegt bei 12,77 Sekunden. „Jenseits meiner Vorstellung“, sagt Rosina Schneider, „aber: nichts ist unmöglich.“ Sven Rees, neben Cathleen Tschirch ihr Trainer in Stuttgart, wünscht ihr, dass ihre Olympia-Premiere erst 2028 in Los Angeles stattfindet: „In diesem Jahr so jung in diesen Kreis zu kommen und gleich auf die Mütze zu kriegen, würde ihr nicht guttun.“ Er will nicht spekulieren, wann seine Athletin 13 Sekunden unterbietet. „Es gibt keinen Plan“, sagt er: „Aber wir werden nicht verhindern können, dass sie irgendwann so schnell läuft.“
Deutsches Team bei U-20-EM Nummer eins
Dem Deutschen Leichtathletik-Verband entspringen im Nachwuchs zahlreiche Welt- und Europameister. Bei der U-20-EM war das deutsche Team mit acht Titeln und 23 Medaillen die Nummer eins. Die Herausforderung für Trainer und Verband besteht darin, den jungen Champions den Schritt zur Wettbewerbsfähigkeit bei den Erwachsenen zu ermöglichen – was viel zu oft misslingt, wie das Abschneiden der Deutschen ohne eine einzige Medaille bei der Weltmeisterschaft von Budapest im vergangenen Jahr zeigt.
In Stuttgart haben auch deshalb die Leichtathleten, der Landessportverband und Sponsor Puma mit der vielversprechenden Sprinterin zusammengelegt, um ihr nach dem Abitur eine Reise in die Werkstätten der Besten ihres Sports zu ermöglichen. Rees trainierte einst die Siebenkämpferin Beate Schrott, die heute mit Dreisprung-Olympiasieger Christian Taylor verheiratet ist. Gern nahmen die Taylors die Athletin aus Deutschland in ihrem Haus in Gainsville in Florida und vor allem in ihre Olympiavorbereitung auf.
In den zweieinhalb Wochen dort traf Rosina Schneider Holloway und Anna Hall, die Top-Siebenkämpferin und hervorragende Hürdensprinterin. Mitte Oktober schon war sie über Phoenix (Arizona) nach Los Angeles geflogen – zu Leistungsdiagnostik, Training und einem Vorgeschmack auf die Olympiastadt, in der sie 2028 starten will.
„Viel geschlafen in Jamaika“
Einer touristischen Auszeit in New York und dem Training in Florida folgten dreieinhalb Wochen in Coach Walcotts Elite Performance Track Club, zu dem neben Shelly-Ann Fraser-Pryce seit November auch die Doppel-Olympiasiegerin im Sprint von Rio 2016 und Tokio 2021 gehört, Elaine Thompson-Herah. „Die jamaikanischen Athleten haben ein anderes Mindset“, weiß Rosina Schneider, seit sie mit ihnen von fünf Uhr morgens bis neun trainierte und noch einmal vier Stunden am Nachmittag: „Das ist doppelt so viel wie mein Training in Stuttgart. Ich habe viel geschlafen in Jamaika.“
Die Entscheidung der Sportlerin, ihren Sport professionell zu betreiben, hat durch die Studienreise eine solide Basis bekommen. Rosina Schneider kennt ihr Ziel, kennt die Stars und hat Gelassenheit gewonnen. „Sie fuhr als Mädchen los“, sagt Trainer Rees, „und sie ist als Frau zurückgekommen.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 17.2.2024