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2013

2012 London Olympic Games London, England Aug03-12 2012 Photo: Victah Sailer@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET

Hürdensprinter Aries Merritt – Der Star aus der Schattenwelt – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

17.05.2013 · Aries Merritt ist der beste Hürdensprinter der Welt. Trotzdem kennen ihn nur die wenigsten seiner Landsleute in Amerika. Sein Start beim Diamond League-Meeting in Schanghai an diesem Samstag wird in seiner Heimat unbeachtet bleiben.

Der Mann ist auf dem Sprung. Im Rasen vor seinem Einfamilienhaus steckt das Schild eines Maklers: zu verkaufen. Doch bevor Aries Merritt im Herbst von dem texanischen Universitätsstädtchen College Station in die Metropole Phoenix in Arizona umzieht, hat er eine Mission zu erfüllen: sich einen Namen machen. Seit dem vergangenen Jahr ist Merritt Olympiasieger und hält obendrein den Weltrekord.

Doch oft genug muss er noch erklären, dass er zwar schnell rennt, aber nicht im selben Wettbewerb wie Usain Bolt. Merritt ist der schnellste Mann über 110 Meter mit zehn Hürden. Beim Finale der Diamond League 2012 in Brüssel hat er den Weltrekord um sieben Hundertstelsekunden auf 12,80 Sekunden verbessert.

„Für das Publikum leben wir nur alle vier Jahre“, stellt Merritt fest. Nun beginnt das Jahr danach. „Es ist schwer, als Leichtathlet in den USA zu existieren.“ Die amerikanischen Fernsehzuschauer bekommen nicht einmal die Weltmeisterschaften in Moskau zu sehen, bei der Merritt Favorit sein wird, ganz zu schweigen von den Wettbewerben der Diamond League, die für Merritt an diesem Samstag in Schanghai beginnen. Die meisten Autogrammwünsche bekomme er aus Deutschland, erzählt er, genauer: Sie gingen bei seiner Mutter in Atlanta ein. „Ich frage mich, woher sie die Adresse haben.“ Sosehr sich Merritt wünscht, ein Star zu sein, so zwiespältig beurteilt er den Effekt. „Ich bin ein bisschen neidisch auf die Leichtathleten in Europa“, sagt er. „Andererseits ist erschreckend, wie es Liu Xiang in China ergeht: Jeder kennt ihn, und schon Platz zwei ist eine Enttäuschung.“
„Hürdenlauf ist Rhythmus“

Von Liu allerdings, dem Olympiasieger von Athen 2004 und tragischen Helden der Pekinger Spiele 2008, ist nichts zu sehen, seit er 2012 von seiner Verletzung zurückkehrte und ihm bei den Spielen von London die Achillessehne riss. In seiner Heimatstadt Schanghai wird er nicht antreten. Dayron Robles, der in Peking Olympiasieger wurde und zwei Jahre später Lius Weltrekord mit 12,87 Sekunden um eine Hundertstelsekunde unterbot, hat sich von den Funktionären seines kubanischen Verbandes offenbar in einen Streik treiben lassen. „Ich wünschte, Liu wäre wieder da und Dayron käme aus seiner Pensionierung zurück“, sagt Merritt. „Das würde die Wettkämpfe besser machen und uns alle bekannter.“

Merritt unterbot den Weltrekord im vergangenen Jahr um sieben Hundertstelsekunden

Das Schwerste, das Höchste, was ein Athlet erreichen kann, ist Merritt gelungen. Es dauerte allerdings ein bisschen, bis er es realisierte. „In London habe ich auf die Zeit geschaut und war enttäuscht, weil es nur 12,92 Sekunden waren“, verrät er. „Ich musste mir sagen: Du bist Olympiasieger!“ Zwar lief er im olympischen Finale sein sechstes Rennen nacheinander in weniger als 13 Sekunden, der Schallmauer im Hürdensprint. Doch erst als er in Brüssel, in Lauf Nummer acht, auf 12,80 Sekunden kam, war er zufrieden: „Da freute ich mich so, wie ich mich über den Olympiasieg hätten freuen sollen.“
Vom jungen Hüpfer zum Hürdensprinter

Im Hürdensprint muss man in völliger Selbstbeherrschung so schnell wie möglich rennen. Oder, auch so kann man diese Kunst interpretieren, sich in höchstem Tempo zügeln können. Wer zu große Schritte macht, kommt ins Straucheln und stürzt. „Hürdenlauf ist Rhythmus“, sagt Merritt und klatscht in die Hände: dreimal kurz, einmal lang, drei Schritte, ein Sprung. „Sprint ist rücksichtslos und ballistisch“, urteilt er. „Im Hürdensprint machen alle 52 Schritte bis ins Ziel.“

Oder, wie Merritt, seit er seinen Start auf sieben Schritte verkürzte, 51. Seit einem Jahr startet er mit dem rechten statt mit dem linken Bein.
 
„Only because two people fell in love“ steht auf dem Rahmen eines Fotos seiner Eltern auf dem Kaminsims, „nur weil zwei Menschen sich verliebten“. So wie er mit bald 28 Jahren noch zu staunen scheint über seine Existenz, ist er auch dankbar für sein Talent. Im Training in der feuchtheißen Luft von Texas fliegt er, lang und schlank, über die Hürden, und wenn ihm die Anstrengung nicht den Atem raubt, lacht er. Die Herausforderungen seiner Sportart begeistern ihn.

Als er dreizehn war, meinte seine Mutter, dass die Kinder in der Schulmannschaft nicht genug zu trinken bekämen und dehydrierten. Statt zum American Football ging er zum Turnen. Er spielte Basketball. Dann sah ein Trainer, wie der sechzehnjährige Schlaks ohne jede Technik, aber energisch und beweglich, einen Zaun übersprang.

Ein Dutzend Jahre später war aus dem jungen Hüpfer der beste Hürdensprinter der Welt geworden. Merritt verkneift sich die Vorstellung, als Wide Receiver im Football könnte er heute statt der Goldmedaille im Safe ein paar Millionen Dollar auf dem Konto haben. „Ich weiß gar nicht, ob ich gut genug wäre“, sagt er. „Wenn ich über die Hirnverletzungen der Spieler lese, bin ich froh, dass ich nicht dabei bin. Football ist so gefährlich.“
 
Bei einem Thema klingt Merritt wie Bolt: „Ich bin sicher, dass der Weltrekord bald fallen wird.“
Zwei Fehler haben er und sein deutscher Trainer Andreas Behm bei der Analyse des Weltrekord-Laufes gefunden: den viel zu langsamen Start und den viel zu hohen letzten Sprung. „Ich war so schnell geworden, ich hatte das Gefühl, zu dicht an die zehnte Hürde zu laufen“, erinnert er sich. „Als wir uns zum Vergleich den Weltrekordlauf von Dayron Robles anschauten, stellten wir fest, dass er auf der ersten Hälfte des Rennens schneller war als ich. Erst an der sechsten Hürde war ich gleichauf. Keine Ahnung, wie er das macht.“

Es gibt also noch viel zu tun in der Saison 2013, neun Jahre nachdem Merritt in Grossetto Junioren-Weltmeister wurde. „Wie schaffe ich es, so bekannt zu werden wie Bolt?“, fragte er bei der Gala des Welt-Leichtathletikverbandes im Herbst in Barcelona den einstigen Hürden-Weltmeister Jackson. „Colin versprach, dass er sich bei mir meldet,“ erzählt Merritt.

Er wartet immer noch auf den Anruf.

 

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 18. Mai 2013

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