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01
09
2023

Janee Kassanavoid - 2023 World Championships Budapest, Hungary August 19-27, 2023 - Photo: Jiro Mochizuki@PhotoRun

Hoffnungswerferin Janee‘ Kassanavoid schwingt ihren Hammer bei der WM Budapest 2023 für das indigene Volk der Komantschen. Sie sagt: „Wir sind immer noch da.“ – Michael Reinsch, Budapest in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Ja, es sei eine Ehre, das Trikot der Vereinigten Staaten von Amerika zu tragen, sagt Janee‘ Kassanavoid. Und formuliert ein Aber: „Ich würde lieber eines der Komantsche-Nation tragen.“

Die junge Frau, groß und stark und in diesem Jahr mit 76,36 Meter zweite im Hammerwerfen bei der Leichtathletik- Weltmeisterschaft in Budapest, hatte einige Tage vor ihrem finalen Auftritt so etwas wie einen Schwächeanfall. In der Pressekonferenz des amerikanischen Teams war sie gefragt worden, was es ihr bedeute, bei der Weltmeisterschaft ihr Volk zu vertreten – nicht das der 330 Millionen Einwohner der Vereinigten Staaten, sondern das ältere der Komantschen.

Deren Stamm zählt noch lediglich 17.000 Mitglieder. Da versagte ihr die Stimme.

„Wir sind immer noch da“, sagt sie schließlich, um Fassung ringend: „Die Geschichte unserer Nation berührt mich emotional. Es ist sehr unglücklich, dass viele Kinder in der Schule nicht die richtige und traditionelle Geschichte lernen.“ Aus dem vermeintlichen Moment der Schwäche macht sie einen der Stärke, indem sie ein Video davon auf Instagram und Tictoc veröffentlicht. Unter dem Namen „Naethrowsheavyrock“ hat sie dort mehr als eine halbe Million Follower: „Nae wirft schweren Stein.“ Unter das Video hat sie geschrieben: „Ein Erbe schaffen.“

Kultur und Geschichte ihrer Nation gehören zu den vielen Entdeckungen, die Janee‘ Kassanavoid beim Erwachsenwerden gemacht hat. Mit neunzehn erst lernte sie das Hammerwerfen kennen. Ihre Bestleistung im Schleudern der vier Kilo schweren Eisenkugel am langen Metalldraht beträgt 78 Meter; sie betreibt es beruflich.

„Ich bin so unglaublich dankbar und gesegnet für die Gelegenheit, schwere Steine zu schmeißen“, schrieb sie nach ihrem Erfolg von Eugene auf ihren Plattformen im Netz: „Meine lieben Natives, Frauen und jungen Athleten: Habt Träume, arbeitet hart und macht sie zur Wirklichkeit! Wir fangen gerade erst an.“ Diejenigen, die ähnliche Irrungen und Wirrungen erlebten wie sie, sollten sich an ihrer Geschichte orientieren. Denn: „Im Sport steckt Kraft.“

Die Ausbildung zur Ernährungsberaterin ist abgeschlossen, der Traum vom eigenen Restaurant zurückgestellt. In der Bestenliste dieses Jahres ist Kassanavoid mit 76,60 Metern die Nummer vier. Sport habe ihr die Chance gegeben, etwas zu leisten, sagt sie, der Erfolg gebe ihr nun eine Bühne, sich auszudrücken und sich zu engagieren. Sie wolle versuchen, einerseits in der Öffentlichkeit ein Schlaglicht auf die rund fünfhundert indigenen Nationen Amerikas zu werfen, sagt sie, andererseits für ihr Volk Leuchtturm und Hoffnungsträger zu sein. Schlagzeilen machte sie während der Weltmeisterschaft von Eugene (Oregon), als sie darauf hinwies, dass das schöne neue Stadion auf Land stehe, das einst dem Stamm der Kalapuya Ilihi gehörte.

Dies mache ihren Medaillengewinn besonders, sagte sie damals. Ein Jahr später klingt sie weniger beschönigend. „Wir konnten unsere Kultur nicht von Generation zu Generation weitergeben“, sagt sie, „denn unsere Väter wurden ermordet, unsere Mütter vergewaltigt, unser Land geraubt.“

Sportlich und gesellschaftlich steht die Frau vom Jahrgang 1995 in der Tradition der amerikanischen Olympiasieger Jim Thorpe und Billy Mills, der eine bester Mehrkämpfer bei den Sommerspielen von Stockholm 1912, der andere Erster im 10.000-Meter-Lauf der Sommerspiele von Tokio 1964. Janee‘ Kassanavoid, die erste amerikanische Medaillengewinnerin indigener Herkunft bei einer Leichtathletik-WM, hat deren Geschichte ebenso nachlesen müssen wie ihre eigene. Die anhaltende Diskriminierung Indigener hat sie am eigenen Leib zu spüren bekommen, ohne dass sie gewusst hätte, wer sie eigentlich ist.

Abgenabelt von ihrem Volk, mit drei älteren Geschwistern wuchs sie in Lawson (Missouri) auf, einem Ort von zweitausend Einwohnern, von dem sie sagt, er verfüge über geringe Diversität. „Deshalb war es schwierig, einen Sinn für Identität zu haben, herauszufinden, wer ich wirklich war.“

Ihre Abstammung sieht man Janee‘ Kassanavoid an. Doch ihr Vater hatte seine Identität als Komantsche mit der Familiengründung aufgegeben. Er verließ das Reservat in Oklahoma, in dem er aufgewachsen war, um seine Kinder nicht einer Atmosphäre auszusetzen, in der Alkoholismus, Drogensucht, Gewalt und Fettleibigkeit vorherrschten, wie er seinen Kindern erklärte. So waren sie mit Ignoranz und Missachtung konfrontiert, welche die Politik des heutigen Amerikas zu einem Kulturkampf stilisiert und die ihren Ausdruck in der Forderung finden, Kinder sollten in der Schule nichts von Diversität, sondern Stolz aufs Vaterland lernen.

„In unseren Schulbüchern gab es gerade ein einziges Schwarz-Weiß-Bild eines Häuptlings, aber nichts über das Trauma, das wir als Kultur durchmachen mussten“, erzählt Kassanavoid: „Die Wirklichkeit ist, dass die Geschichte der Vereinigten Staaten voll ist von Traumata der indigenen Völker. Es war verboten, unsere Kultur auszuleben, zu tanzen, unsere Sprache zu sprechen. Man wurde im Grunde gezwungen, sich als eingeborener Amerikaner aufzugeben und das Leben der Weißen zu leben.“

Janee‘ Kassanavoid hat sich aufgemacht, in Oklahoma Kontakt zu den Letzten ihres Volkes aufzunehmen. In dem Ort Lawton, kulturelles und politisches Zentrum der Komantschen, wird sie empfangen und für ihren sportlichen Erfolg gefeiert und geehrt. Sie kommt zu Powwows und Handelsmessen und lässt sich von den Alten Geschichte und Geschichten ihres Volkes erzählen. „Alles, was mich mit meiner Nation verbindet, etwas, an dem ich mich festhalten kann. Wenn ich einmal Kinder habe, will ich ihnen etwas weitergeben. Unsere Tradition und Geschichte sollen nicht vollständig verloren gehen.“ Stärke und Durchhaltevermögen charakterisierten die Komantschen, sagt sie: „Wir sind Krieger.“

Auf dem Höhepunkt seiner Macht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Reitervolk mehr als 40.000 Mitglieder und beherrschte die südlichen Ebenen bis Mexiko. Heute leben noch weniger als zehn Muttersprachler. Das sind fast halb so viele, wie die amerikanische Armee im Zweiten Weltkrieg zur Kommunikation von Geheimsachen einsetzte. Den Funk konnten die Deutschen abhören, die Sprache der Komantschen blieb ihnen ein Rätsel.

Auch die Geschichte der Sporthelden Thorpe und Mills ist eine von Diskriminierung.

Erst vor einem Jahr, 2022, setzte das Internationale Olympische Komitee Thorpe wieder als alleinigen Olympiasieger der Wettbewerbe ein, die er 1912 gewann. Ihm, dessen Großväter aus Irland und Frankreich stammten und dessen Großmütter zu den Stämmen Potawatomi sowie Sac and Fox gehörten, waren die Goldmedaillen aberkannt worden, weil er angeblich vor seiner Olympia-Teilnahme an semiprofessionellen Baseballspielen teilgenommen hatte. Dreißig Jahre nach seinem Tod 1953 wurde der Athlet, der später als Footballprofi und -trainer reüssiert hatte, zunächst an die Seite derer gesetzt, die an seiner Stelle zu Siegern erklärt worden waren.

„Ich hatte immer den Eindruck, dass bei der Aberkennung der Medaillen durch das IOC die Entscheidung dem Olympischen Komitee der USA überlassen worden war, und sie entschieden auf Disqualifikation“, kommentierte Mills im vergangenen Jahre: „Ich hatte das Gefühl, dies hing mit Privilegierung und systemischem Rassismus zusammen.“

Billy Mills, vom Stamm der Oglala Sioux und wie Thorpe in einem Reservat in Dakota aufgewachsen, hat die Stiftung „Running Strong“ gegründet. Was sie leistet, klingt nicht nach sozialer Arbeit in einem der reichsten Länder der Welt, sondern nach erster Hilfe in einem gescheiterten Staat: von Gesundheitserziehung über Brunnenbau bis zur Lieferung von Tüten mit Nahrung und Schulmaterial.

Janee‘ Kassanavoid tut gut daran, dies zu ergänzen um ein wenig Selbstwertgefühl und Stolz.

Michael Reinsch, Budapest in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 27. August 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

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author: GRR