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08
2022

Symbolbild Hochsprung - 2022 World Athletic Championships Eugene, Or July 15-24, 2022 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET #victahsailer

Hochspringer Tobias Potye: „Zweiter zu werden, das ist immer tricky zu verarbeiten“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Nachdem er bei den Olympischen Spielen verletzungsbedingt pausieren musste, sichert sich Tobias Potye in München die Silbermedaille – ohne Techniktraining und trotz Kniebeschwerden.

Die deutschen Leichtathleten machen staunen. Nicht nur mit der Zahl ihrer Erfolge, fünf Titeln und insgesamt elf Medaillen bis Donnerstagabend bei der Europameisterschaft in München, sondern auch mit der Vorbereitung. „Ich habe nicht eine Technikeinheit gemacht die letzten zwei Jahre“, verriet der Münchner Tobias Potye, der am Donnerstag überraschend Zweiter im Hochsprung wurde.

Lediglich Olympiasieger Gianmarco Tamberi aus Italien übertraf ihn mit 2,30 Meter. Der 27 Jahre alte Potye überflog wie der Weltmeisterschaftsdritte Andrij Prozenko aus der Ukraine 2,27 Meter. Aber im Gegensatz zu diesem hatte Potye bis zum Ausscheiden bei 2,30 Meter keinen einzigen Fehlversuch. Bei der deutschen Meisterschaft in Berlin vor sechs Wochen hatte Potye, 1,98 Meter groß und ehemaliger U-20-Europameister, erstmals diese Höhe gemeistert.

Potyes Probleme

Ein Hochspringer ohne Techniktraining ist ebenso verblüffend wie ein Marathonsieger ohne Lauftraining. Richard Ringer, der am Montag auf den 42,195 Kilometern triumphierte, hatte sich durch einen großen Anteil Alternativtrainings wie Radfahren, Schwimmen und Cross-Training in Form gebracht. Er leidet an einer chronischen Sehnenreizung im Fuß.

So ähnlich geht es Potye. „Ich habe mit den Sehnen zu kämpfen“, sagte er nach seinem Erfolg. „Ich habe nur trainiert fürs Knie und bin im Wettkampf gesprungen, das war die Mission.“ Statt im Trainingslager verbrachte er Wochen in der Rehaklinik für Sportler des Red-Bull-Konzerns in Salzburg. Bei ihm gehen die Probleme von der Patellasehne im Knie aus.

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Die Saison 2019 hatte er wegen der Beschwerden vollständig ausfallen lassen müssen; er kam kaum Treppen hinauf oder hinunter. Was mag ohne Malaisen und mit richtigem Training herauskommen? „Das will ich 2024 zeigen“, erwidert Potye. Sein Ziel sind die Olympischen Spiele von Paris. Es sei bitter gewesen, die von Tokio 2021 auf der Couch vorm Fernseher verfolgen zu müssen. Im nächsten Jahr will er wiederhergestellt sein und ins normale Training zurückkehren. Dann will er sich auf Augenhöhe mit den Besten messen.

„Gianmarco mal schlagen“

An Selbstbewusstsein dafür mangelt es dem Studenten der Informatik nicht. Durch eine Stelle in der Sportförderung der Bundeswehr ist er im Status eines hauptberuflichen Hochspringers und dauerhaft von der Universität abwesend. Potye hatte sich in München offenbar mehr vorgenommen, als nur eine Medaille zu gewinnen. „Zweiter zu werden, das ist immer tricky zu verarbeiten“, sagte er am Donnerstag nach seinem Wettkampf und verriet damit, dass er sich im Impuls als ersten Verlierer sieht.

„Eigentlich ist die Zeit reif, Gianmarco mal zu schlagen. Nun muss ich das noch mal vertagen. Aber das wird kommen.“ Hätte er die Medaille bei Gleichstand geteilt, wie es Tamberi bei den Olympischen Spielen mit dem Qatarer Mutaz Barshim tat? „Es wäre nicht schlau gewesen“, sagt er dazu, „bei diesem Wetter in ein Jump-off zu gehen.“

Trotz des Regens – „das juckt mich nicht“ – konnte Potye das Heimspiel genießen. Schon in der Qualifikation am goldglänzenden Dienstagabend hatte er sich von der Atmosphäre im Olympiastadion elektrisieren lassen, doch da gehörte das Publikum den Zehnkämpfern, den Sprinterinnen und Sprintern sowie den Diskuswerferinnen.

Anders als noch in der Qualifikation fürs Finale der Weltmeisterschaft von Eugene (Oregon) vor fünf Wochen, als sich Potye morgens um zehn Uhr im leeren Stadion fühlte, als wäre er zu früh aufgestanden, ließ er sich am Donnerstagabend packen. „Das war eine Bombenstimmung“, schwärmte er: „Das muss man mitnehmen. Wenn man es nutzen kann.“

Stimmung statt Techniktraining? Wenn die Knie nicht mitmachen wollen, kann offenbar der Kopf doppelte Arbeit leisten.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 19. August 2022

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