Der andere Robert Harting malt und hat gerade ein Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin begonnen.
Hartings Rolle als Bad Boy mit Diskus – Michael Reinsch, Berlin – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
23. Dezember 2009 Es waren zwei Robert Hartings, die an dem warmen Mittwochabend mitten im August vor mehr als 50.000 jubelnden Besuchern des Berliner Olympiastadions Weltmeister wurden. Niemand wusste so recht, welcher von beiden da souverän warf, raste, ausrastete und schließlich mit den besten Wünschen des Regierenden Bürgermeisters ins Berliner Nachtleben zog.
Noch am Morgen hatte man in den Zeitungen lesen können, dass dieser Diskuswerfer „völlig außer Kontrolle“ geraten sei, ein „Blindgänger“, ein „manischer Aggressivling“. Der eine Robert Harting ließ sich davon anstacheln. „Herausforderungen sind immer schön“, sagt er vier Monate danach über die turbulenten Weltmeisterschaftstage. Die Wut der Kommentatoren trug ihren Teil bei zum Gewinn seiner Goldmedaille.
Der andere Robert Harting malt und hat gerade ein Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin begonnen. Die Bundeswehr hat ihm deshalb den Kommunikationskurs, zu dem sie ihn verdonnert hatte, erlassen und ihn zum Feldwebelanwärterlehrgang nach Hannover zitiert. Als hätte er damit nicht genug zu tun, ackert Harting im Kraftraum, um mit dem Aufbau der Form für die kommende Saison zu beginnen. Er sei nicht verschollen, beteuert der 25-Jährige auf seiner Internetseite www.derharting.de.
Selbst für Freunde und Bekannte ist er derzeit kaum erreichbar – zumal er den Umzug in eine neue Wohnung plant und die neuen Sponsorverträge, die der Titelgewinn auch noch abwerfen soll, selbst verhandelt. Einen Manager hat Harting nicht mehr.
Mancher Sponsor, den man längst an seiner Seite vermutet hätte, rührt sich nicht. Das könnte daran liegen, dass der eine Harting ohne den anderen nicht zu haben ist, der angehende Akademiker, der Dr. Jekyll, nicht ohne den unbeherrschten Grobian Mr. Hyde. Der eine hat sich auch nicht ohne den anderen hineingesteigert in den Titelgewinn am 19. August.
Tirade gegen Verband und Doping-Opfer
Die Geschichte beginnt mit einem Anruf am Montag der Weltmeisterschaftswoche, zwei Tage vor dem Finale. Ein Reporter der Deutschen Presse-Agentur (dpa) konfrontiert den Athleten damit, dass Gerd Jacobs auf einer Pressekonferenz gefordert habe, ihn aus der Nationalmannschaft auszuschließen. Harting empfindet das als empörend. Gerade hat er mit einem Interview für einen Skandal gesorgt, in dem er über die Wirkungslosigkeit von Doping-Kontrollen und die Konsequenzen daraus räsoniert. Darauf und auf ein paar dumme Zitate auf Hartings Website bezieht sich die Forderung nach dem Rauswurf.
Gerd Jacobs ist ein früherer Kugelstoßer und IM der Staatssicherheit. Im Sommer 2008 erinnerte er sich vor einer Fernsehkamera daran, dass er als Jugendlicher in der DDR von Werner Goldmann Doping-Mittel erhalten hatte. Auch das war ein Skandal. Goldmann war als Bundestrainer auf dem Weg zu den Olympischen Spielen, und er war der Trainer von Harting. (siehe: Werner Goldmann im Gespräch: „Das härteste Jahr meines Lebens“) Beinahe wäre er beides nicht mehr, beinahe wären durch die Erinnerung von Jacobs zwei Karrieren zu Ende gegangen; die von Goldmann und die von Harting.
Provoziert durch einen Protest
Das hat der 2,01 Meter große und 130 Kilo schwere Harting unverdaut im Sinn, als er ins Olympiastadion stapft, sich mit einem gewaltigen Wurf für das Finale qualifiziert und auf dem Weg hinaus einigen Journalisten entgegentritt. Nahezu ansatzlos hebt er an zu einer Tirade gegen die Gruppe von DDR-Doping-Opfern, die gerade eine Protestaktion vorgestellt hat, zu der gehört, 25.000 undurchsichtige „Doping-Schutzbrillen“ mit der Aufschrift „Ich will das nicht sehen“ zu verteilen.
Zu der Gruppe gehört Jacobs. Mr. Hyde bricht aus dem Riesen hervor und sorgt für den Eklat der Weltmeisterschaft. „Ich hoffe, wenn der Diskus aufkommt, dass er dann gleich noch mal Richtung Brillen springt“, sagt er. „Dann gibt es wirklich nichts mehr zu sehen.“
Am nächsten Tag wird die Ungeheuerlichkeit in breiter Front kommentiert. „Ich habe einen Tunnelblick bekommen und wurde sehr engstirnig“, erzählt Harting über seine Reaktion. „Das hat mir schon geholfen.“ Das Finale am Mittwochabend beginnt er damit, dass er mühelos fünfzehn Zentimeter weiter wirft als je zuvor: 68,25 Meter. „Wartet mal ab, bis ich durchziehe, habe ich mir gedacht.“
„Ich hatte mich von allen verraten gefühlt“ – Kritiker seiner Kritiker: Robert Harting
Doch der Pole Pjotr Malachowski führt, und das nimmt Mr. Hyde persönlich. „Beim letzten Wurf hatte ich nicht die Weite im Kopf, sondern nur den Polen“, erzählt er. „Da hatte ich nur noch ihn, den ich schlagen wollte, ihn, ihn, ihn. Ich habe gedacht: Nicht du, nicht hier, nicht heute!“ Harting schleudert die zwei Kilo schwere Scheibe zum sechsten und letzten Mal in die Berliner Luft. „Als ich gesehen habe, dass sie bei sechzig, fünfundsechzig Meter nicht so fiel wie normal, sondern weiter zog, bin ich erst mal aus dem Ring gegangen“, erinnert er sich. „Da war schon alles weiß vor Adrenalin. Mein Herz hat gehämmert, und ich habe mir gesagt: du Idiot! Ich überrasche mich ja oft selbst. Diese wenigen Sekunden, das war der geilste Moment meines sportlichen Lebens.“
Der Diskus schlägt bei 69,43 Metern auf. Harting ist Weltmeister. Als Erstes machte er eine Geste, als verschließe er seinen Mund mit einem Reißverschluss. Er muss den letzten Versuch von Malachowski abwarten, doch damit hat das Signal nichts zu tun. Soll es bedeuten, dass Mr. Hyde Redeverbot bekommt? „Ich hatte mich von allen verraten gefühlt“, erinnert sich Harting. „Da dachte ich mir: Euch gebe ich kein Interview, nicht jetzt!“ Dann lässt er sich und seinen Gefühlen buchstäblich freien Lauf, stürmt die Laufbahn hinunter, springt, packt das Maskottchen Berlino und legt es sich auf sein breites Kreuz.
Er spielt mit zwei Persönlichkeiten – Handzahm im Triumph: Harting nach dem Sieg in Berlin
Eike Emrich weiß, wie Harting tickt. „Robert nutzt Aggressivität als Selbststimulans“, sagt der Soziologieprofessor, der während der WM als Vizepräsident des Verbandes beim Team war. „Je größer die Zahl der Gegner, desto größer das Stimulans.“ Für eine gespaltene Persönlichkeit hält er den Athleten nicht. Der Mann habe einen guten Kern, ist er überzeugt. „Robert inszeniert sich als Bad Boy. Er spielt mit zwei Persönlichkeiten und erschrickt, wenn andere das ernst nehmen.“
Den Bad Boy spielt Harting überzeugend. Auf die Frage, was ohne Sport aus ihm geworden wäre, antwortet er vor der WM: „Wahrscheinlich würde ich das gleiche Auto fahren, mehr verdienen und nicht mal Steuern drauf zahlen. Wenn man nichts zu verlieren hat, ist es relativ leicht, so zu leben.“ Bevor er in eine kriminelle Karriere abgleiten konnte, habe eine Hand ihn weggezogen. „An Gott glaube ich nicht, sonst würde ich vielleicht sagen, dass er es war.“ So hängt Harting lediglich der Ruf des ehemaligen Disco-Schlägers nach.
Beinahe Bruch zwischen Goldmann und Harting
Doch es sind andere als körperliche Verletzungen, die ihn bis heute schmerzen. Mit zehn war er in der Fußballmannschaft von Lok Cottbus Linksaußen und Kopfballungeheuer, wie er sich erinnert. Bis ihm im Training der Ball perfekt auf den Fuß flog und ihm ein richtiger Hammer gelang. Der Junge im Tor kriegte seine Hand gar nicht schnell genug weg, da war schon der Finger gebrochen. „Von da an war ich der böse Typ“, erinnert sich Harting bitter. Tief verletzt, gerade er, zog er sich zurück. Im Handballteam war er der überragende Werfer. Bis zu dem Tag, als ihn der neue Trainer wegen des ausstehenden Vereinsbeitrages bloßstellte. Das ging so weit, dass er, dessen Sohn mit im Team spielte, die Familie Harting als bettelarm beschimpfte. „Ich bin nie mehr hingegangen“, sagt Harting.
„Stellen Sie sich einen Formel-1-Fahrer vor, der hat einen Puls von zweihundert und Adrenalin bis zur Hutschnur. Er baut einen Unfall, steigt aus dem Wrack, und kaum steht er am Streckenrand, erzählt ihm ein Journalist eine ungeheuerliche Geschichte“, sagt Emrich. „Würde er vernünftig reagieren? So muss man sich Robert vorstellen. Während der WM hatte er drei Tage lang genauso viel Adrenalin im Blut. Der Journalist, der Robert angerufen hat, hat praktisch eine Lunte ins Ölfass geworfen.“
Der Reporter ahnt nicht, dass aus der existentiellen Krise Goldmanns – der Verband verlängerte dessen Vertrag zunächst nicht – fast ein Bruch zwischen Trainer und Athlet geworden war. Es ging den beiden gar nicht um Doping und DDR-Sport, um Offenheit im Umgang mit der Vergangenheit, wie ihn die Opfer und Geschädigten des Dopings in der DDR bis heute anmahnen.
Der Trainer schwieg und litt, und der Athlet verlangte Aufmerksamkeit. Im Mai kam es zur Explosion. Harting beschimpfte Goldmann und andere Mitglieder der Trainingsgruppe so heftig, dass die beiden Männer am nächsten Tag verabredeten: „Das Jahr machen wir noch gemeinsam zu Ende. Dann sehen wir weiter.“ Das alles, so empfanden es die beiden, weil Jacobs sich erinnert hatte.
Mr. Hyde übernimmt
Und nun soll just dieser Jacobs auch noch Hartings Rauswurf fordern. Man muss kein Psychoanalytiker sein, um zu realisieren, warum Mr. Hyde in der Persönlichkeit Hartings das Kommando übernimmt. Dabei ist aus der Geschichte längst die Luft raus, als Harting sie eskalieren lässt. Bei der dpa hatte ein Reporter die Forderung nach dem Rauswurf versehentlich Jacobs zugeschrieben; in Wirklichkeit hatte ein einstiger Radrennfahrer sie erhoben. Harting hätte vermutlich nur die Achseln gezuckt, hätte er davon gehört. Die Agentur dpa korrigiert ihren Fehler, zwei Stunden nachdem sie ihre Harting-Geschichte gesendet hat. Der Athlet im Mannschaftshotel mit seinem Tunnelblick bekommt davon nichts mit.
Am Donnerstagmorgen, weniger als zwölf Stunden nach seinen Titelgewinn, ringt Harting sich mit leiser Stimme und verquollenen Augen auf einer Pressekonferenz eine Entschuldigung für seine verbale Entgleisung ab. Danach klärt ihn der Anrufer vom Montag endlich auf. „Das alles war eine Riesen-Ente“, sagt Harting heute. „Ich bin angepiekt worden. Da hatte einer einen Dummen gefunden. Eike Emrich hatte recht: Das Ding war lanciert.“ Doch was Harting rausgehauen hat, kann er nicht zurückholen, weder Diskus noch Drohung. „Dieses harte Brot muss ich essen“, sagt Harting.
Der Weltmeister ist nicht an der Spitze angekommen, weil er nett und freundlich wäre, sondern weil er seine Größe und seine Kraft, seine Motorik und seine Motivation gewinnbringend einsetzen kann. Weil das so bleiben soll, wird Harting seine harten Kanten geschärft lassen. Wie das funktioniert, zeigt sein Umgang mit dem Thema Ehe.
Hartings Lebensgefährtin wird wohl noch ein paar Jahre darauf warten müssen, Frau Harting zu werden. „Heirat macht den stärksten Krieger milde“, ist nämlich Harting überzeugt. Heirat koste Leistung. Deshalb soll Mr. Hyde nicht domestiziert werden.
Er hat noch eine Aufgabe im Leben Robert Hartings.
Michael Reinsch, Berlin – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 23. Dezember 2009