Nach 24 Kilometern war Schluss. Haile Gebrselassie gibt beim New-York-Marathon auf und verkündet seinen Abschied. Der Körper diktiert auch einer Lauflegende das Karriere-Ende.
Haile Gebrselassie – Die Zeit ist abgelaufen – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Das war nicht Kaiser Haile, der Herrscher über den Langlauf, der sich am Sonntag beim New York Marathon präsentierte. Humpelnd, am Knie verletzt, gab Haile Gebrselassie, nachdem er in der Spitzengruppe die Queensboro Bridge nach Manhattan überquert hatte, das Rennen nach 24 Kilometern auf.
Wenig später erklärte er seine unglaubliche sportliche Karriere für beendet. Wer von Rücktritt spreche, höre innerlich schon auf, hatte er seit Jahren gesagt.
Nun musste er mit versteinertem Gesicht und gegen die Tränen kämpfend realisieren, dass ihn nach zwanzig Jahren fortgesetzter Beschleunigung auf dem Weg vom armen Bauernsohn zu einer der bekanntesten und wohlhabendsten Persönlichkeiten Äthiopiens, dass ausgerechnet ihn, der in seiner Karriere 27 Mal Weltrekord lief, die Zeit eingeholt hat.
So wie Emil Zatopek, der Olympiasieger von Helsinki 1952 über 5000 und 10.000 Meter sowie im Marathon, in den fünfziger Jahren die Welt des Langlaufs aus den Angeln hob, so machte sich der 1,67 Meter große Haile Gebrselassie vor und nach der Jahrtausendwende zum Spitzenreiter der weltweiten Laufbewegung. Und wie Paavo Nurmi, der in den zwanziger Jahren neun Mal Olympiasieger wurde, wird Gebrselassie immer den Stachel spüren, nie den Marathon bei Olympischen Spielen gewonnen zu haben.
Er überforderte seinen Körper
Mit seinem breiten Lächeln, seiner entwaffnenden Fröhlichkeit und der schlichten Klarheit seiner Rede überspielte der Äthiopier den brennenden Ehrgeiz, der ihm die Olympiasiege über 10.000 Meter von Atlanta 1996 und Sydney 2000 einbrachte und vier WM-Titel auf dieser Strecke. „Ich kann die ganze Welt betrügen. Aber ich kann nicht mich selbst betrügen“, sagte er zum Thema Doping. „Wenn er sich klar wird, dass er betrügt, ist dies das Schlimmste, was einem Athleten passieren kann. Er ist von sich selbst gesperrt, aus seinem eigenen Leben ausgesperrt.“
Gebrselassie war bewusst, dass er mit Triumphen wie dem bis heute schnellsten Marathonlauf – dem von Berlin 2007 in 2:03:59 Stunden – auch dem Verdacht Nahrung gab. Doch was konnte er anderes tun, als dagegen anzurennen?
New-York-Marathon: Gebrselassie steigt aus und tritt zurück
Bei seinem ersten New York-Marathon am Sonntag wollte der 37-jährige Gebrselassie beweisen, dass er den größten Marathon der Welt ohne auf ihn eingeschworene Tempomacher, im freien Spiel der Kräfte, gewinnen kann – doch er überforderte seinen Körper. Nicht die Sieger – sein Landsmann Gebre Gebremariam und die Kenianerin Edna Kiplagat – beherrschten die Schlagzeilen des Montags. Sie nehme den Rücktritt Gebrselassies nicht an und wolle versuchen, ihn fürs nächste Jahr zu verpflichten, sagte Mary Wittenberg, die Präsidentin des New York Marathon; eine Knieverletzung stoppe Sterbliche.
Sie will einfach nicht glauben, dass selbst Haile einer ist.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 8. November 2010