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15
11
2010

“Ich liebe das Laufen immer noch. Ich werde immer laufen“

Haile Gebrselassie – Der Rücktritt vom Rücktritt – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Haile Gebrselassie sollte ein Freizeitläufer werden. Nach zwanzig Jahren an der Spitze, mit Olympiasiegen, Weltmeisterschaften und Weltrekorden en masse hatte der unglaubliche Äthiopier am Sonntag vor einer Woche beim New-York-Marathon aufgeben müssen und unter Tränen seine Karriere beendet. Am Samstag ist nun sein Freund und Manager Jos Hermens aus den Niederlanden nach Addis Abeba geflogen.

Seine Mission: Haile auf Trab bringen. „Er muss niemandem etwas beweisen“, sagt Hermens. „Er soll nur noch tun, was ihm Spaß macht. Zehn-Kilometer-Läufe, Straßenläufe und so etwas. Aber er soll sich nicht in zehn Jahren fragen: Warum habe ich mit einer Niederlage aufgehört? Haile hat das Recht, auf einem Höhepunkt Schluss zu machen.“

Und prompt will Langstrecken-Idol Haile Gebrselassie seine Karriere nun doch fortsetzen. Nur eine gute Woche nach seiner Rücktritts-Erklärung verkündete der 37-Jährige an diesem Montag über das Netzwerk „Twitter“: „Ich habe das Laufen im Blut und habe mich entschieden, weiterzumachen. Wenn es meinem Knie bessergeht, werde ich beginnen, mich auf mein nächstes Rennen vorzubereiten.“ Sein Ziel sei die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2012 in London.
 

Der König ist zurückgetreten, ist vom Rücktritt zurückgetreten, lang lebe der König

London 2012: Diesen Höhepunkt hatte Gebrselassie seit Jahren immer als finalen Höhepunkt seiner Karriere genannt. Er wird dann zwar 39 Jahre alt sein. Doch Haile wäre nicht Haile, hätte er nicht stets davon gesprochen, dass es der Olympiasieg in der Königsdisziplin des Langlaufs sei, der in seiner Sammlung noch fehle. Seinen ersten großen Titel – und den Mercedes, den er bis heute fährt – gewann Gebrselassie bei der Weltmeisterschaft von Stuttgart 1993.

Drei weitere Weltmeisterschaften folgten, zusätzlich vier in der Halle – zwei davon 1999 in Maebashi mit der bis heute einmaligen Demonstration, sowohl über 1500 Meter als auch über 3000 Meter zu siegen. Bei seinen beiden Olympiasiegen über 10.000 Meter, 1996 in Atlanta und 2000 in Sydney, besiegte er im Spurt Paul Tergat – beim zweiten Mal mit neun Hundertstelsekunden Vorsprung, knapper als Maurice Green den 100-Meter-Lauf gewann. 2007 nahm Gebrselassie seinem ewigen Rivalen Tergat auch noch den Marathon-Weltbestleistung ab; ein Jahr später verbesserte er die Bestzeit auf bis heute unerreichte 2:03,59 Stunden.

„Er darf nicht von der Goldmedaille reden“

„Wenn er wieder laufen will, ist es meine Aufgabe, ihm den Druck zu nehmen“, sagte Hermens vor dem Abflug. „Das heißt: keine blöden Pressekonferenzen, keine anderen blöden Sachen. Interviews wird es nicht mehr geben.“ Selbst bei den Olympischen Spielen könnte Gebrselassie ohne Druck und nur aus Spaß laufen, behauptet Hermens. „Aber er muss aufpassen: Er darf nicht von der Goldmedaille reden.“ Wenn 2012 überhaupt eine Medaille herausspränge, und sei es die aus Bronze, wäre das ein Riesenerfolg.

Gebrselassie war zwar abgetaucht in Äthiopien, doch über Twitter funkte er schon bald: „Ich liebe das Laufen immer noch. Ich werde immer laufen. Gebt mir nur ein bisschen Zeit, über einiges nachzudenken.“ Ironie des Rücktritts: Der Druck auf Gebrselassie wuchs.

Wanjiru und Gebremariam ließen den Rücktritt nicht gelten

Olympiasieger Samuel Wanjiru, der neben Gebrselassie erfolgreichste Marathonläufer der vergangenen Jahre, lobt Gebrselassie nicht nur als „Vorbild für ganz Afrika“. Er fordert auch: „Bevor er mit dem Training aufhört, kommt er hoffentlich noch einmal zurück, denn ich will gegen ihn rennen. Ich brauche seine Rückkehr – nur für einen einzigen Lauf.“

Weiterhin der Mann an der Spitze: Haile Gebrselassie läuft doch weiter

Gebrselassies Landsmann Gebre Gebremariam, der in New York siegte, schloss sich an: „Er muss seine Pläne ändern. Er ist so besonders für uns.“ Die Internetseite „letsrun.com“ rief ihre Leser zu Sympathiebekundungen auf, um Gebrselassie davon zu überzeugen, dass er sein Publikum nicht enttäuscht habe.

Allein und unvorbereitet auf dem Podium

Womöglich war der Rücktritt ein großes Missverständnis. Obwohl sein Knie entzündet und geschwollen war und am Tag vor dem Lauf punktiert und mit Schmerzmitteln behandelt worden war, bestand Gebrselassie auf den Start. Er fühlte sich den Veranstaltern verpflichtet, die sich seit Jahren um ihn bemüht hatten. Und er fühlte sich herausgefordert von einem Bericht in der „New York Times“, in dem es hieß, nach all seinen von Tempomachern eskortierten Rekordläufen müsse Gebrselassie sich in New York endlich im direkten Vergleich mit den Besten beweisen.

Weltrekord: 2:03:59 Stunden in Berlin

Und dann war das Rennen bei Kilometer 24 zu Ende. Der nur 1,64 Meter große Herrscher des Langlaufs stieg geschlagen und unter Schmerzen in einen Begleitbus. Eine halbe Stunde lang hielten Ordner das Fahrzeug am Ziel fest, bis der Fahrer entschied, zum Pressezentrum statt zum Hotel zu fahren. Allein und unvorbereitet stieg Gebrselassie auf das Podium. Während er sich Tränen aus den Augen wischte, sprach er bitter von Enttäuschung und Rückzug.

Ob das bedeute, dass er seine Karriere beende, fragte ein Reporter. Ja, erwiderte Gebrselassie und humpelte hinaus. Einer äthiopischen Journalistin sagte der aufgelöste Läufer vor der Tür: „Mein Training für New York, für New York allein, hätte für Olympische Spiele gereicht. Es hat nichts gebracht. Es ist genug: hierher zu kommen und immer und immer zu sagen, ich sei krank oder verletzt . . .“.

Ein Hobbyläufer, der den Marathon in 2:03 Stunden läuft – „Ich habe das Laufen im Blut und habe mich entschieden, weiterzumachen”

Hermens war völlig überrascht von dem Auftritt. Er traf Gebrselassie im Hotel. „Ich konnte in diesem Moment nicht Pro und Contra mit ihm diskutieren“, sagte er. Im Fernsehen lief ein Film über die Sprinterin Marion Jones, die nach Jahren größter Triumphe des Dopings überführt wurde, ihre Medaillen zurückgeben musste und im Gefängnis landete. „Es ging um menschliches Leid“, sagt Hermens. „Ich wollte ein bisschen reden, aber Haile war es wichtiger, den Film zu sehen. Danach ist er geflogen.“

In Addis Abeba haben sie wieder miteinander gesprochen. „Mein Rücktritt in New York war die erste Reaktion nach einem enttäuschenden Rennen“, erklärte Gebrselassie nun mit dem Abstand einer Woche. Sie sei aus der Emotion heraus geschehen.

„Klar soll Haile ein Hobbyläufer werden“, sagt Hermens und lacht. „Einer, der den Marathon in 2:03 Stunden läuft.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 15. November 2010

author: GRR

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