Die Nummer eins ist für ihn sein Landsmann Abebe Bikila, der zweimal in Folge Marathon-Olympiasieger war und beide Male in neuer Weltrekordzeit gewonnen hat
Haile Gebrselassie, der herzliche Weltstar – Teil 2
Wo immer Haile Gebrselassie hinkommt, steht der bekannteste Läufer der Welt im Zentrum. Kinder winken ihm zu, wenn er in Addis Abeba vom Büro nach Hause fährt – in jenem bestens gepflegten Mercedes übrigens, den er bei seinem ersten Weltmeistertitel 1993 (!) in Stuttgart gewonnen hat.
Leute kommen zu ihm, wollen ihn anfassen, ein paar Worte wechseln, von Sorgen erzählen, sich mit ihm fotografieren lassen. Und Haile, das ist seine Stärke und Schwäche zugleich, sagt kaum einmal „Nein".
Ein Blick zurück lohnt sich, um seinen Antrieb zu verstehen. Es ist ziemlich genau 20 Jahre her, dass Haile zum ersten Mal bei einem internationalen Rennen den materiellen Überfluss der nördlichen Hemisphäre kennen gelernt hat.
Als 18-jähriger Junge, der es in die Juniorenauswahl seines Landes geschafft hatte, flog er nach Belgien zur Cross-WM. Am 24. März 1991 startete er in Antwerpen und erreichte den achten Platz der Juniorenwertung. „Wenn ich daran zurück denke, fällt mir ein, dass die größte Schwierigkeit für mich war, gute Kleidung für die Reise aufzutreiben", erinnert er sich. „Jedes mal, wenn ich den Wohlstand und den Reichtum in anderen Ländern gesehen habe, war es ein großer Anstoß für mich, selbst etwas in Äthiopien zu unternehmen."
Als einer, der selbst in einfachen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen ist, meint er damit nicht nur seine Firmen, mit denen er als Arbeitgeber zur Entwicklung beiträgt. Haile hat auch zwei Schulen gegründet, eine in seinem Geburtsort Assela, eine zweite in Bahir Dar am wunderschönen Tana-See. „Assela ist eine ärmere Gegend. Hier bezahlen wir vielen Kindern den Schulbesuch, die Kleidung und die Bücher, wenn es sich die Eltern nicht leisten können. Bildung ist der Schlüssel, um die Armut zu bekämpfen", beschreibt er sein Engagement.
Strahlende Augen in der Schule
Warum Haile Gebrselassie zum Volksheld und Vorbild für Äthiopien geworden ist, kann man nirgends so verstehen wie dort. Es ist ein Haile abseits von Mikrophonen und Fernsehkameras, aber er ist genauso freundlich und zuvorkommend, wie in der Öffentlichkeit. In Bahir Dar im Norden Äthiopiens besuchen 1200 Kinder und Jugendliche die vor zehn Jahren mit anfangs 40 Kindern gegründete „ADM-Schule", benannt nach Hailes früh verstorbener Mutter Ayelech Degefu, deren Initialen sich im Namen wiederfinden.
Als Haile zu Besuch kommt, stehen alle versammelt und er wird mit einer Choreographie aus Liedern, Sprechchören und Lautsprecherdurchsagen lautstark empfangen. Er schüttelt Hände und streichelt Köpfe mit strahlenden Augen. Mit dem Direktor bespricht er die nächste Erweiterung der Schule. Den Elternverein trifft er zum Mittagessen. Die Lehrer motiviert er und dankt ihnen für ihre Arbeit. „Hier geht es nicht ums Geld verdienen, wie in meinen anderen Geschäften. Hier geht es um Verantwortung und die Befriedigung, etwas für mein Land zu tun", sagt er stolz. „Wenn ich etwas angehe, will ich immer etwas machen, das wirklich einen Unterschied ausmacht."
„Vielleicht bin ich Nummer 10!"
Das hat er ohne Zweifel auch im Laufsport gemacht, dem er sich weiterhin mit Feuer und Flamme widmet. Seine Ziele sind nach wie vor die Allerhöchsten: „Ich will in London 2012 Olympiagold im Marathon gewinnen", sagt er klar. In der viel diskutierten Frage nach dem größten Langstreckenläufer aller Zeiten hat Haile übrigens sein ganz persönliches Ranking:
Die Nummer eins ist für ihn sein Landsmann Abebe Bikila, der zweimal in Folge Marathon-Olympiasieger war und beide Male in neuer Weltrekordzeit gewonnen hat. An zweite Stelle reiht er den Finnen Paavo Nurmi ein, auf Rang drei die „tschechische Lokomotive" Emil Zatopek.
Und an welcher Stelle sieht er sich selbst? „Vielleicht bin ich die Nummer zehn", sagt er mit Understatement und kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Im Ernst fügt er hinzu: „Lasst mich erst meine Karriere beenden, dann soll das jemand anders beurteilen."
Andreas Maier/race-news-service.com