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23
04
2023

wenige Tage nach seiner Einbürgerung, Haftom Welday ist beim BERLIN-MARATHON 2022 in 2:09:06 Stunden die deutsche Bestzeit des Jahres gelaufen - Foto: Horst Milde

Haftom Welday in Hamburg: „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Haftom Welday ist im Schnelldurchgang zu einem der besten deutschen Läufer im Marathon aufgestiegen. Für die märchenhafte Erfolgsgeschichte musste der gebürtige Äthiopier durch die Hölle gehen.

Bei der Abnahme des Sportabzeichens in Pattensen, einer Kleinstadt bei Hannover, fällt einem Trainer des Turn- und Sportvereins ein junger Mann auf, der mit bemerkenswerter Leichtigkeit die 3000 Meter läuft. Sie kommen ins Gespräch. Der Läufer steckt mitten im Asylverfahren. Zum Sport ist er gekommen, um seine neue Heimat kennenzulernen, seine neuen Mitbürger und vor allem deren Sprache.

Der Trainer realisiert schnell, dass ihm ein bemerkenswertes Talent zugelaufen ist. Fünf Jahre später, 2020, fliegen die beiden zum ersten Mal ins Höhentrainingslager nach Äthiopien.

Haftom Welday, der junge Mann von damals, ist inzwischen Profi. Statt in Tretern vom Discounter rennt er in Hightech-Schuhen. Er hat einen Kreis von Unterstützern, einen Sponsor und gemeinsam mit Frau und drei Kindern eine Wohnung in Hamburg. Gerade 33 Jahre alt, in einem Alter also, in dem viele Topathleten auf die Zielgerade ihrer Karriere einbiegen, präsentiert er sich als aufstrebender Anfänger. 2022, wenige Tage nach seiner Einbürgerung, ist er beim BERLIN-MARATHON in 2:09:06 Stunden die deutsche Bestzeit des Jahres gelaufen. Er erzählte danach, dass er sich zurückgehalten habe bei seinem erst zweiten Lauf auf dieser Distanz.

„Ich mache einfach mit“

An diesem Sonntag (9.00 Uhr im NDR) will er beim Hamburg-Marathon, dem dritten seiner Karriere, mindestens eine Minute schneller sein – 2:08,10 Stunden ist die Norm für die Olympischen Spiele von Paris 2024. Dort will er hin. „Haftom hat sich von 2:13 auf 2:09 verbessert“, sagt Europameister Richard Ringer am Freitag: „Wenn er so weitermacht, ist jetzt eine 2:05 fällig.“ Welday wird am Sonntag versuchen, im Gegensatz zu Ringer, in der Gruppe der internationalen Topläufer mitzuhalten: 62:45 Minuten für die erste Hälfte, eine Zeit von 2:05 Stunden für die 42,195 Kilometer.

„Ich mache das einfach mit“, sagt er. „Wie lange, wird sich zeigen.“ Nach drei Monaten Höhentraining bei Addis Abeba sei er so fit wie noch nie in seinem Leben. Niemand aus seinem Umfeld wäre überrascht, würde Welday den deutschen Rekord von 2:06:27 Stunden brechen. Die Geschichte wirkt wie ein Märchen. Doch Haftom Welday ist durch die Hölle gegangen. 2014 verließ er Frau und einjährigen Sohn in der äthiopischen Provinz Tigray, wo die Menschen sowohl von Eritrea als auch von der Zentralregierung in Addis drangsaliert wurden, um sich nach Europa durchzuschlagen.

„Niemand sieht das“

Mit mehr als zweihundert Flüchtenden in den Laderaum eines Lastwagens gepfercht erreichte er von Sudan aus die Sahara. Bei glühender Hitze und ohne Schutz vor der Sonne in der Wüste ausgesetzt, retteten die Schlepper, die in Geländewagen aus Libyen kamen, ihm und seinen Schicksalsgefährten das Leben. Hätten sie sich verpasst, wären die Flüchtenden schon nach der ersten Etappe ihrer Flucht verdurstet. „In der Sahara sterben noch mehr Menschen als im Mittelmeer“, sagt Welday: „Niemand sieht das.“

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Nicht, dass es den Schleppern um das Leben der Menschen gegangen wäre. Dreißig waren es, die sich vier Tage lang auf der Ladefläche aneinander klammerten. Sie wussten: Wer vom Geländewagen stürzte, würde zurückbleiben. Der Fahrer raste, um nicht im Sand steckenzubleiben, mit Vollgas weiter. Wasser gab es aus ungereinigten Benzinkanistern. „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe“, erinnert sich Welday. „Ich kann nicht sagen, ob es Mut oder Verzweiflung, Unreife oder Dummheit ist, sich auf eine solche Reise zu machen. Selbst wenn ich zehn Mal neu geboren werden würde: Diese Reise würde ich niemals wiederholen.“

Er weinte und dankte Gott

36 Stunden dauerte die Überfahrt von Tripolis nach Sizilien auf einem Holzboot, dessen zwei Decks überfüllt waren mit Verzweifelten. Welday weinte, als er Europa erreicht hatte und dankte Gott. Dann tauchte er unter und schlug sich, von Verhaftung und dreimonatigem Verfahren in der Schweiz unterbrochen, nach Deutschland durch. Und landete schließlich in Pattensen.

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Begeisterung fürs Laufen entwickelte Welday im Schnelldurchgang. Der Äthiopier Kenenisa Bekele wurde sein Vorbild. Auf Youtube erlebte er dessen drei Olympiasiege, als sähe er sie live, sah Bekeles fünf Gewinne der Weltmeisterschaft über 5000 und 10.000 Meter, dessen elf Siege bei der Cross-Weltmeisterschaft. 2019 fuhr er zum BERLIN-MARATHON und passte den äthiopischen Star ab, um ein Selfie mit ihm aufzunehmen. Im Jahr drauf gab er in Berlin sein Marathon-Debüt.

In diesem Jahr hat er in Addis gemeinsam mit Bekele trainiert. „Er hat zu spät angefangen mit dem Training“, sagt Welday, angesprochen auf die Chancen des inzwischen vierzig Jahre alten Äthiopiers, den London-Marathon zu gewinnen, der am Sonntag gleichzeitig mit dem von Hamburg stattfindet. „Ein Monat Vorbereitung ist nicht genug.“ So sehr er Bekele und dessen Talent bewundert, so sehr hat er doch gelernt, dass das unermüdliche Training von dessen Gegenspieler Eliud Kipchoge aus Kenia mehr Erfolg verspricht.

Vielleicht hat er auch deutschen Ethos verinnerlicht. Jedenfalls sagt er: „Den Unterschied macht die Arbeit.“ Am Sonntag soll sie sich auszahlen.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 22. April 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

author: GRR