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08
07
2008

Man kann nicht sagen, dass diese Form der Meisterschaftskrise der Trend gewesen wäre an diesem stimmungsvollen Nürnberger Wettkampfwochenende.

Gruß an die Psychologin – In der Mittelmäßigkeit versandet: Einige hochdekorierte Athleten verlassen bei den deutschen Meisterschaften der Leichtathletik ratlos das Stadion. Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung

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Es sollte vorbeigehen, möglichst schnell, denn es war einer dieser Tage, an dem eine Speerwerferin spürt, dass nichts Gutes mehr kommen kann. Im letzten Versuch hatte Christina Obergföll, die Europarekordlerin und WM-Zweite aus Offenburg, ihr Gerät noch einmal auf 62,18 Meter gebracht, was weit unter ihrer Saisonbestleistung lag, aber die Führung bedeutete gegen Steffi Nerius, die Europameisterin und WM-Dritte aus Leverkusen, die ebenfalls haderte mit ihrer Weite von 61,91 Meter.

Eine Konterchance hatte Steffi Nerius noch, aber die versandete in der Mittelmäßigkeit, so wie eigentlich alles in der Mittelmäßigkeit versandet war bei diesem Titelkrampf mit zwei Olympia-Hoffnungen. Und auch wenn Christina Obergföll in dem Augenblick, in dem ihr Sieg feststand, einen ziemlich sportlichen Jubellauf hinlegte, der an ihren ersten Europarekord von 70,03 Meter bei der WM 2005 in Helsinki erinnerte, fing auch sie gleich wieder die Ernüchterung ein. "Mein Fazit ist: Not gegen Elend", sagte Steffi Nerius. Christina Obergföll stimmte zu. Sie hatte ein niveauvolles Einwerfen gesehen, mehr nicht: "Im Stadion war auf einmal der Wurm drin."

Man kann nicht sagen, dass diese Form der Meisterschaftskrise der Trend gewesen wäre an diesem stimmungsvollen Nürnberger Wettkampfwochenende. Und ohnehin musste man streng unterscheiden zwischen den kleineren Unpässlichkeiten, aus denen immer noch ein stattliches Ergebnis bei den Olympischen Spielen wachsen kann, und den echten Sportdramen, an denen die Träume einer ganzen Olympiade zerschellen. Die Meisterschaft war in vollem Gange, als vom Aufwärmplatz die Nachricht kam, Weitspringerin Bianca Kappler aus Rehlingen, die WM-Fünfte von Osaka und eine von 25 fest nominierten Peking-Startern des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, habe sich bei ihren letzten Vorbereitungen auf den Wettkampf die Achillessehne gerissen. Gegen dieses Unglück war jeder andere Ausrutscher ein lässliches Problem.

Trotzdem sind einige Hochdekorierte einigermaßen ratlos aus der Nürnberger Arena gestapft, die früher Frankenstadion hieß und heute einen besonders hässlichen Sponsorennamen trägt. Christina Obergföll eben, die überhaupt nicht die Dynamik aufbrachte, mit der sie im vergangenen Jahr noch einen Sieg an den nächsten reihte. Ihre Fitnesswerte sind angeblich erstklassig, im Training rennt und springt sie besser denn je. Aber ihre Wurftechnik kommt nicht wie gewünscht.

"Die Nervosität rutscht in die Beine"

Der Meistertitel war ihr dieses Jahr besonders wichtig, weil es der erste war, den sie gegen Steffi Nerius errang, die im vergangenen Jahr in Erfurt gefehlt hatte, vielleicht machte ihr deshalb der Druck zu schaffen, dem sie sich selbst aussetzte. "Die Nervosität rutscht so ein bisschen in die Beine, dann war ich auch ein bisschen so verkrampft", sagte sie. Andererseits wirkt sie schon die ganze Saison über unsicherer als im vergangenen Jahr. Was der Unterschied ist zwischen 2007 und jetzt? "Wenn ich das wüsste, wäre ich einen Schritt weiter."

Hammerwurf-Weltmeisterin Betty Heidler war sogar richtig betroffen nach ihrem Sieg mit international wertlosen 68,84 Metern. Die Glückwünsche bei der Siegerehrung nahm sie mit einem gezwungenen Lächeln entgegen wie eine Witwe die Beileidsbekundungen, und hinterher richtete sie sich mit trockener Selbstkritik. "Mein Anspruch sind nicht 70 Meter, sondern eher Richtung 75 Meter – da war ich ja ganz weit weg." Woran es lag? "Am Kopf", versetzte Betty Heidler knapp und meldete sich aus der Ferne schon mal für eine Seelenmassage an: "Die Psychologin kann sich darauf gefasst machen."

Selbstvertrauen vor dem Saison-Höhepunkt gewinnt man anders, was vielleicht auch der Grund dafür war, dass Chefbundestrainer Jürgen Mallow bei seiner Zwischenbilanz diese kleinen Meisterschaftskrisen gar nicht erwähnte. Einzelne Medaillenkandidatinnen schwächeln, die Diskus-Weltmeisterin Franka Dietzsch bereitet sich weiterhin im Krankenstand auf die Peking-Reise vor, welche ihr der Deutsche Olympische Sportbund wegen ihrer Verdienste wohl gewähren wird. Da findet es Mallow klüger, die Blicke auf jene zu richten, die gerade verlässlich gut sind: auf Nadine Kleinert etwa, die WM-Dritte im Kugelstoßen, die mit 19,67 Meter gewann. Auf Diskuswerfer Robert Harting, den jungen WM-Zweiten aus Berlin, der aus dem Training heraus eine Siegesweite von 66,26 Metern vorlegte.

Und auf Hochspringerin Ariane Friedrich, die wieder einmal sicher über 2,00 Meter floppte, ihrem Trainer Günter Eisinger vorher aber einen "sehr unangehmen Schock" versetzte. Beim Aufwärmen stolperte sie irgendwie über ihre eigenen langen Beine, Ariane Friedrich wusste selbst nur noch, dass sie bei dem Unfall statt auf der Matte auf der harten Kunststoffbahn aufschlug, wofür sie immerhin eine schöne lyrische Formulierung fand: "Ich habe den Boden geküsst." Eisinger war nicht amüsiert, ihr selbst taten die Knie weh. Trotzdem hüpfte sie munter voran und scheiterte am Ende nur knapp an ihrer Bestleistung von 2,04 Meter.

Krise und Fortschritt dicht beieinander

Irgendwie hatte alles seinen Platz bei diesen Meisterschaften. Das Hoch und das Tief, die Hoffnung, die Verzweiflung, die Krise und der Fortschritt. Im Weitsprung lieferten sich Nils Winter und Sebastian Bayer einen niveauvollen Zweikampf um die Olympiaqualifikation, den letztlich Bayer mit 8,15 zu 8,08 Metern gewann. In anderen Disziplinen pendelten die Leistungen wieder weit jenseits internationaler Standards.

Und wenn der Bundestrainer Mallow das alles überblickte, kam er zu dem Schluss, dass er die Ereignisse nicht nur an Ergebnissen und möglichen Olympia-Medaillen bemessen wollte. Er hatte im Publikum gesessen und mitbekommen, wie sich die Zuschauer auch von Wettkämpfen in den Bann ziehen ließen, in denen die Teilnehmer weit unter olympischen Ansprüchen blieben.

Ihm gefiel das, er hielt das für eine Stärke. Auch Krisen können spannend sein.

Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Montag, dem 8. Juli 2008

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