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13
08
2011

Gestörter Umgang mit dem eigenen Körper ©EAA - European Athletics

Gestörter Umgang mit dem eigenen Körper

By GRR 0

 
Im Interview mit "Faktor Sport" spricht der Sportwissenschafler Giselher Spitzer über die Karriere des Begriffs "Body Enhancement" und die Auswirkungen auf das Körperverständnis.

Faktor Sport: Professor Spitzer, wenn es um künstliche Leistungssteigerung im Breitensport geht, ist oft nicht von „Doping“ die Rede, sondern von „Neuro-“ beziehungsweise „Body-Enhancement“. Was ist der Unterschied?

Giselher Spitzer: „Enhancement“ ist eine technische Formulierung, die zunächst neutral besetzt war. Und „Doping“ in seiner ursprünglichen ingenieurwissenschaftlichen Bedeutung meinte das Dehnen von Fasern oder Metallen. Erst seit der Begriff „Enhancement“ nicht mehr rein mechanisch verwendet wird, sondern sich auf das Modellieren körperlicher oder psychischer Eigenschaften bezieht, hat er eine negative Bedeutung erfahren. Trotzdem bin ich bei der Verwendung sehr zurückhaltend. Ich spreche lieber von „pharmazeutischer Leistungssteigerung“ oder „dopingaffinem Verhalten“, um die negative Seite dieser Form des Medikamentenmissbrauchs auszudrücken.

Woher kommt der Begriff?

Er ist eine Reaktion auf den massenhaften Amphetaminmissbrauch in den USA seit den 50er-Jahren und später auf den Konsum bewusstseinsverändernder Drogen wie LSD oder Rauschmittel wie Kokain. Selbst ernannte „Bioethiker“ begannen darüber nachzudenken, ob es eine vernünftige Form des Einsatzes von pharmazeutischen Produkten für Gesunde gebe. Sie haben den Begriff „Enhancement“ geprägt und damit versucht, den Gebrauch leistungssteigernder Mittel positiv – beispielsweise unter den Aspekten Verlängerung des Lebens, gehobene Gestimmtheit und bessere Hirnleistung – zu diskutieren.

Dieser Ansatz ist anscheinend erfolgreich gewesen. 

Das Problem ist, dass die Protagonisten dieser Bewegung in den 70er- und 80er-Jahren einem falschen Verständnis von Doping folgten. Sie gingen davon aus, dass Doping nur die Muskeln vergrößert oder eine bessere Sauerstoffaufnahme ermöglicht. Sie haben leider nicht gewusst, dass Dopingmittel genauso psychisch wirken: durch den Angriff auf das zentrale Nervensystem zum Beispiel, die Erhöhung der Aggressivität oder sogar die entsprechende langfristige Veränderung der Persönlichkeit. Sozusagen: Angriffslust als Dauerzustand.

Die Befürworter des Enhancement haben versucht, sich bewusst vom Doping abzugrenzen. Hat das funktioniert?

Es hat ein problematisches Grundverständnis befördert. Ein gutes und uns Erzieher erschreckendes Beispiel aus der Unterrichtspraxis: Ein Schüler gesteht vor der Klasse ein, dass er Anabolika nimmt, behauptet aber, das sei kein Doping. Schließlich nehme er es nicht im Wettkampf, sondern im Fitnessstudio. Ein faszinierender Beleg für die paradoxe Wahrnehmung ist auch eine andere Schülerreaktion aus dem Unterricht: „Was meinen Sie genau? Anabolika oder Doping?“

Ist es nicht ein elementarer Unterschied, ob man sich nur selbst betrügt oder aber Medien, Öffentlichkeit und Geldgeber?

Nein. Eine herausragende Rolle des Sports und des Sportunterrichts ist ihr Beitrag dazu, dass bereits Kinder lernen, Regeln zu vereinbaren und einzuhalten. Dies ist ein wichtiges Lernfeld. Leider gibt es Tendenzen zur Förderung eines aus ethischer Sicht zweifellos „falschen“ Freiheitsbegriffs im Sinne einer gleichsam schrankenlosen und unreflektierten Selbstverwirklichung. Der verantwortungsvolle Umgang mit den fast unglaublichen Möglichkeiten unserer Gesellschaft beinhaltet schließlich auch einen verantwortungsvollen Umgang mit dem eigenen Körper.

Haben die in den NADA- beziehungsweise WADA-Codes erfassten Dopingregeln zur Schärfung des Bewusstseins beigetragen?

Nein, für viele der Nicht-Hochleistungssportler haben sie nichts mit dem eigenen Leben zu tun. Wenn beispielsweise Jugendliche die gleichen Mittel nutzen wie
die Doper, ist immer wieder zu hören, man würde nichts Verbotenes tun, da man an keinem Sportwettkampf teilnehme oder nur Freizeitsportler sei, für den Dopingkontrollen nicht gelten würden. Das Argument heißt bei dieser dopingaffinen Einstellung: Doping im Spitzensport ist unfair, ich aber tue nichts Verbotenes – ich nutze meine Freiheitsrechte.

Ist diese Haltung auch darauf zurückzuführen, dass im Leistungssport die Dopingregeln nicht konsequent umgesetzt werden?

Nach der Analyse einzelner Alters- beziehungsweise Bevölkerungsgruppen erkennt man zumindest, dass wichtige Punkte einer Anti-Doping-Politik noch nicht angekommen sind: enorme Gesundheitsgefahren, der Fairnessgedanke oder juristische Probleme wie die Strafbarkeit des Besitzes von Präparaten, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Dopingaffines Verhalten trifft sich hier mit Neuro-Enhancement-Praktiken in der Freizeitkultur, etwa der Einnahme von „Speed“ oder „Ecstasy“, um die Nacht durchtanzen zu können.

Wie kann die Antwort des Sports aussehen?

So wie der Anti-Doping-Code den Profisport schützt, braucht der Breitensportler etwas, das ihm sagt: Wo verlaufen die Grenzen? Wo schädige ich mich selbst, wo verschaffe ich mir einen unrechtmäßigen Vorteil gegenüber anderen? Darüber hinaus werden natürlich auch die großen Fragen des Heranwachsens berührt: Wer bin ich? Wer will ich sein? Setze ich für meine sportlichen Ziele alle Mittel ein, auch wenn sie illegal, gefährlich oder zumindest riskant für mich sind? Jedem leuchtet ein, dass es Betrug ist, wenn man den „Schiri“ besticht oder bei einem Langstreckenlauf den Weg abkürzt. Bei einer Leistungssteigerung durch pharmazeutische Produkte ist es nicht mehr so eingängig. Wir brauchen deshalb auch einen „Anti-Enhancement-Code“.

Die Erfahrungen aus dem Profisport zeigen, dass ein Code allein nicht ausreicht.

Nein, es ist viel Aufklärungsarbeit erforderlich, die über die Gefährdungsaspekte hinausgeht. Da kann der Sport Vorreiter einer gesellschaftlichen Entwicklung sein. Verhaltensweisen, die hier entwickelt werden, können für andere Bereiche Vorbild sein, sozusagen für den Wettkampf in einer Zivilgesellschaft.

Das klingt hehr.

Es formuliert nur das Problem und hebt den möglichen Beitrag des Sports hervor. Es gibt ein beeindruckendes Beispiel aus Dänemark: Vor einigen Jahren haben sich Fitnessclubs zusammengeschlossen, um den Anabolikamissbrauch zu verhindern. Es wurden freiwillige Dopingkontrollen eingeführt. Wer positiv getestet wird, fliegt raus. Bei solchen Modellen ist man als Einzelperson gefordert und kann sich nicht verstecken. Man erfüllt eine Selbstverpflichtung, und zwar bewusst. Mit an die sogenannte Vertragsethik angebundenen Lern- und Verhaltensfeldern wird auch für die Gesellschaft eine Menge getan.

Der Anabolikamissbrauch hat in Fitnessstudios eine lange Tradition. Welche Medikamente sind derzeit unter Breitensportlern in Mode?

Wir sehen einen schleichenden Trend zur „Ritalinisierung“ mit einer gefährlichen Tendenz: „Society goes Ritalin“. Das Medikament wurde ursprünglich für Kinder und Jugendliche entwickelt, um die Symptome von ADHS zu dämpfen und eine Therapie zu erleichtern. Es hat die abgeschwächte Wirkung von Amphetamin. Sportler setzen es instrumentell ein, um ihre Leistung zu erhöhen; Schüler und Studenten, um bessere Leistungen zu erzielen. Geradezu alltäglich und daher häufig übersehen sind regelmäßig und hoch dosiert eingenommene Schmerzmittel, die in so unterschiedlichen Sportarten wie Langstreckenlauf oder Gewichtheben beliebt sind. Sie vermindern die Schmerzempfindung, schieben dadurch subjektiv Leistungsgrenzen heraus, Trainingsintensität und -umfang werden erhöht.

Inwieweit tragen Medien, etwa Boulevardformate oder Fitnesszeitschriften, sowie unser hochgetakteter Alltag dazu bei, dass Breitensportler zu leistungssteigernden Präparaten greifen?

Wenn wir mit Abstand auf unseren Kulturkreis blicken, ist beides ein Ausdruck der häufig widerspruchslos übernommenen ökonomischen Zwänge unserer Gesellschaft zur beruflichen Leistung. Wir leben in einer Hochleistungsgesellschaft, laut Kabarettist Dieter Hildebrandt sogar in einer Höchstleistungsgesellschaft. Was wir aus Fehlentwicklungen im Sport kennen – immer der Erste sein zu müssen und sich dafür auch unter Gefährdung der eigenen Gesundheit aller möglichen Hilfsmittel zu bedienen –, bildet sich leider mehr und mehr auch in den Arbeitsverhältnissen ab.

(Das Interview erschien in Ausgabe 2/2011 des DOSB-Magazins "Faktor Sport". Kai Schächtele führte das Gespräch.)

Der Vorbeuger

Giselher Spitzer, 58, ist Koordinator des Verbundprojekts „Translating Doping“ im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Ziel dieses Projekts ist es unter anderem, die Diskussion über Dopingpraktiken aus dem Sport in die Gesellschaft zu tragen. Von 2003 bis 2005 war er ständiger Gast der „Kommission Prävention“ der Nationalen Anti Doping Agentur Deutschland. Im Januar erschien das Buch „Sport, Doping und Enhancement – Transdisziplinäre Perspektiven“, das er gemeinsam mit dem Sportphilosophen Elk Franke herausgegeben hat.

Wider den Medikamentenmissbrauch

Dass Doping schädigende Nebenwirkungen hat, scheint im Freizeitsport nicht angekommen zu sein. Nach wie vor greift jeder vierte Mann, der in einem Fitnessstudio trainiert, zu leistungsfördernden Mitteln. Bei Frauen sind es 14 Prozent. So lauten zumindest die Ergebnisse einer neuen Studie, für die Wissenschaftler der Uni Frankfurt 484 Sportler in elf Trainingseinrichtungen der Umgebung befragten.

Es sind auch solche Ergebnisse, durch die sich der DOSB, der ADAC und die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände in ihrer gemeinsamen Initiative bestätigt fühlen, in der sie seit Februar auf Medikamentenmissbrauch aufmerksam machen.

Am 3. November dieses Jahres laden die drei Organisationen zu einem Symposium zum Thema nach Berlin.

 

Quelle: DOSB

 

author: GRR

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