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2014

Am 6. Mai 1954 in Oxford: Rogr Bannister schildert: „Mein Geist übernahm, ich lief weit vor meinem Körper und trieb meinen Körper unwiderstehlich voran. Ich spürte, dass der Moment eines ganzen Lebens gekommen war. Es gab keinen Schmerz, nur eine große Einheit von Bewegung und Ziel. Die Welt schien still zu stehen, oder sie existierte gar nicht. Die einzige Realität waren die nächsten 200 Yards der Laufbahn unter meinen Füßen." ©picture alliance

Genieblitz. Der 6. Mai 1954 – Roger Bannister – Auszug aus dem Buch: „Franz Stampfl – Trainergenie und Weltbürger: Biografie eines Visionärs“ von Andreas Maier, Verlag SportImPuls, Salzburg-Wien 2013

By GRR 0

Alles war bereitet. BBC übertrug live im Radio. Eine Kamera filmte vom Infield aus das Geschehen, für den Fall, dass eine außergewöhnliche Leistung passieren sollte. Das still vorbereitete Geheimprojekt, das nie so richtig geheim gehalten werden konnte, nahm vor aller Augen Gestalt an. Kurz vor sechs Uhr abends, Augenblicke vor dem Start.

Am gut sichtbaren, massiven Turm der St. John Kirche, die wie eine Normannenfestung wirkt, bewegte sich die Fahne des Heiligen Georg nur leicht im Wind.

Erst jetzt war bei Roger Bannister die Entscheidung gefallen: Es gilt! Chris Chataway war der Erste, der den Trainingsanzug ausgezogen hatte und auf die Bahn gegangen war. Insgesamt sechs Läufer nahmen Aufstellung. Drei davon würden die Geschichte dieses Rennens schreiben. Ein Fehlstart von Brasher. „Sorry, Chris", sagte der Starter, als er den Läufer wieder zurück an die Startlinie beorderte. Schuss. Es sollte kein 6. Mai mehr kommen, an dem nicht über die Geschehnisse der kommenden Minuten gesprochen wurde.

 

 Alle drei Läufer hatten den Plan des Weltrekordrennens in ihren Gehirnen.

 

Würde die Durchführung gelingen? Chris Brasher, der auf kurzen Strecken langsamste des Trios, musste die Initiative übernehmen und einen vollen Kilometer weit führen. Er war kurzsichtig, trug dicke Brillen und hatte die kräftigen Beine eines Bergsteigers. Sein Laufstil wirkte wie eine sichtbare Ausformung des Namens seines Trainers. Schon nach wenigen Metern atmete er so heftig, dass man fürchten musste, er könne ein Training oder Rennen nicht beenden. Er träumte dennoch heimlich davon, an diesem Tag mit einem Geniestreich in die Geschichte einzugehen. Er würde seine Aufgabe perfekt machen, und dann weiterlaufen, sich an seine beiden Laufkollegen anhängen und warum sollte er nicht nochmals an die Spitze gehen und dieses Rennen gewinnen können?

An Vorstellungskraft hat Brasher fast alle seine Zeitgenossen überflügelt. Nur Franz Stampfl konnte mithalten, darum verstanden sie sich auch so gut. Brashers Vorbereitung auf das Meilenrennen war für Stampfl die schwierigste Aufgabe. Ein großer Leistungssprung war nötig, und obwohl er sich tatsächlich stark verbessert hatte, konnte er den beiden anderen auf dieser Distanz nicht das Wasser reichen.

 

An diesem Tag hing alles von der Genauigkeit des Tempos auf den ersten zweieinhalb Runden ab.

 

Sollte Brasher den kleinsten Fehler machen, würde das ganze Unternehmen kippen. Eine möglichst gleichmäßige Geschwindigkeit war das Ziel, um nicht zu früh die Energie zu verbrauchen oder bei zu langsamer Geschwindigkeit in einen Rückstand zu geraten, der am Ende nicht mehr aufzuholen war. Brasher setzte sich an die Spitze, dicht gefolgt von Bannister, der ihm von hinten so nahe kam, als wollte er ihn anschieben. Die erste Runde, 440 Yards oder 402,34 Meter, lief er in 57,5 Sekunden. „Schneller! Schneller!", schrie Bannister, weil er die Zeitdurchsage nicht hörte.

Brasher machte alles richtig und blieb bei seinem Rhythmus: „Ich glaube nicht, dass ich ihn gehört habe", sagte er. „Ich lief so schnell ich konnte, ohne in einen vollen Sprint überzugehen." Stampfl sah die energieraubende Ungeduld in Bannisters Bewegungen und schaffte es, vom Infield aus seine Botschaft an ihn zu bringen. Bannister: „Aus dem Lärm der Menge drang eine schreiende Stimme zu mir durch: „Relax". Ich erfuhr danach, dass es Stampfl war. Unbewusst gehorchte ich." Die Durchgangszeit nach zwei Runden, der halben Distanz: 1 Minute 58 Sekunden.

 

Das mentale Set-Up der Läufer war unerschütterlich. Sie hatten ein halbes Jahr darauf hingearbeitet.

 

Stampfl: „Was so wichtig ist in jedem neuen Vorhaben, das in Wahrheit nichts anderes ist als ein Akt des Vertrauens, ist der Glaube, ein riesengroßer missionarischer Glaube, ein Sinn für Hingabe, ein so zwingender Drang, dass es nichts Wichtigeres gibt als das, was man gerade macht.

Dieser Geisteszustand ist im Grunde gleich in jeder Person, die große Dinge erreichen will, in einem kreativen Künstler wie in einem Dichter, in einem Wissenschaftler wie auf allgemeiner Ebene. Es lässt ihn glauben, dass er sich abhebt vom Rest der Menschheit, wenn auch nur für einen kurzen Sekundenbruchteil in einem Leben. In jedem gemeinsamen Unternehmen muss jeder Einzelne das Gefühl bekommen, dass er oder sie eine unverzichtbare Rolle spielt und dass es zu jedem Zeitpunkt fast zur Gänze vom Verhalten und vom Antrieb und von der Inspiration abhängt, ob sie von oben oder von innen heraus kommt, und dass sie zu jedem Zeitpunkt in diesem Geist fortfahren müssen, um es zu einem Erfolg zu machen."

Die erste Hälfte war perfekt gelaufen. Brasher führte weiter mit verzerrtem Gesicht. Es wirkte anstrengungslos, war aber ein Kraftakt, als Chataway in der folgenden Kurve beschleunigte und von der dritten Position aus an die Spitze ging. Bannister nahm wie ohne Übergang sein Tempo auf und die beiden setzten sich sofort von Brasher ab.

„Chataway war dabei, die vielleicht größte selbstlose Handlung zu machen, die ich in der Leichtathletik in meinem ganzen Leben erfahren habe", so Stampfl. „Ich dachte, dass Chataway in diesem Rennen ebenfalls unter vier Minuten laufen könnte, aber was zur Zeit dieses Versuchs in seinem Kopf war, war nicht ein Rennen zu gewinnen, sondern einen anderen dahin zu führen, die Barriere zu brechen."

 Die dritte Runde. Hier wird die Anstrengung am größten. Die frische Energie und der Zauber des Anfangs sind verschwunden. Zweimal ist man schon an jenem Punkt angekommen, an dem man gestartet ist. Das Ziel ist noch zu weit entfernt, als dass man bereits seine letzten Reserven mobilisieren könnte. Die Durchgangszeit nach drei Runden: Drei Minuten und sieben Zehntel einer Sekunde. Die Läufer waren langsamer geworden als geplant.

Noch sollte Chataway an der Spitze bleiben: „Es war eine Höllenanstrengung für mich, nach drei Runden auf diesem Tempo weiter vorne zu laufen und in die Schlussrunde hineinzuführen." Man steht im Niemandsland, ist auf sich allein gestellt. Die Lunge brennt, die Muskeln werden sauer.

‚Ist es das alles wert? Lass einfach nach, nur ein bisschen! Mach es dir leichter!‘, so zweifelt man. „Keine Sorge", hat Stampfl oft gesagt, „es ist nur Schmerz." Noch musste Chataway durchhalten, ehe Bannister übernehmen sollte.

„Von Anfang an dachte ich, dass Bannister äußerst misstrauisch und argwöhnisch mir gegenüber war und gegenüber allem, das mich umgab", schildert Stampfl die Beziehung der beiden Charakterköpfe. „Er war extrem klassenbewusst und litt darunter, nicht zur Upper Class zu gehören. Er war nicht bereit, ein „Coaching" zu akzeptieren, egal vom wem. Er war extrem eifersüchtig darauf bedacht, dass seine eigenen Erfolge gänzlich ihm zugeschrieben werden und niemandem sonst. Dennoch hatte ich keine Bedenken, eine Zusammenarbeit mit ihm zu akzeptieren."

Die Schwingungen waren nicht immer harmonisch, aber der Wissenschaftler Bannister und der ehemalige Kunststudent Stampfl teilten eine grundlegende Einstellung zum Laufen. Bannister schrieb: „Ich glaube, wie er, leidenschaftlich und hingebungsvoll an die kreativen günstigen Auswirkungen der Leichtathletik. Wir mögen künstliche Leben des 20. Jahrhunderts führen, aber wir sind um nichts weniger als unsere Vorfahren imstande, Lust für körperliche Aktivität freizusetzen.

Sport, und Laufen im Besonderen, soll den ganzen Menschen inspirieren – Körper und Geist."

Bannister kannte faktenreich die medizinischen Vorgänge beim Laufen im Körper, aber wusste, dass es mehr gab: „Keine Erklärung ist zufriedenstellend, die nicht die Gefühle von Schönheit und Stärke berücksichtigt." Stampfl berührte Tiefenschichten des Trainings. Er glaubte an den entscheidenden Blitz, der nach langer Vorbereitung in einem außergewöhnlichen Moment freigesetzt werden kann:

„Ein Trainer muss seinen Athleten fühlen lassen und er muss selbst daran glauben, dass in jedem Menschen der Funke eines Genies vorhanden ist, der entdeckt, gestärkt und entwickelt gehört und eine stets präsente Wirklichkeit werden muss."

 

Nun sollte es soweit sein.

 

Roger Gilbert Bannister, 25 Jahre und 44 Tage alt, „bei weitem das größte Lauftalent seiner Zeit", überholte Chataway und ging 230 Yards vor dem erhofften glorreichen Zieleinlauf an die Spitze. Noch niemals zuvor war er oder jemand anderer so nahe dran, die große Sensation zu verwirklichen.

Bannister schildert: „Mein Geist übernahm, ich lief weit vor meinem Körper und trieb meinen Körper unwiderstehlich voran. Ich spürte, dass der Moment eines ganzen Lebens gekommen war. Es gab keinen Schmerz, nur eine große Einheit von Bewegung und Ziel. Die Welt schien still zu stehen, oder sie existierte gar nicht. Die einzige Realität waren die nächsten 200 Yards der Laufbahn unter meinen Füßen."

Würde es diesmal gelingen? Würde er das nötige Tempo halten können? Die Zuschauer waren wie elektrisiert. Das Geschrei potenzierte sich. Alle sprangen hoch, rannten so nahe wie möglich an die Laufbahn heran, ballten ihre Fäuste, schrien auf ihn ein, bewegten schwungvoll eine Hand durch die Luft, als könnten sie ihn dadurch anschieben. Nur bei Bannister war die Energie am Ende. „Diese letzten paar Sekunden schienen endlos. Nur wenn ich das Zielband ohne Verlangsamung meiner Geschwindigkeit erreichen würde, wartete die Welt auf mich zur Umarmung."

Mit dem letzten Schritt hatte er seine Reserven verbraucht. Bannister stürzte ins Ziel, sackte zusammen, war beinahe bewusstlos: „Der Schmerz überkam mich. Ich fühlte mich wie ein explodiertes Blitzlicht ohne Willen zu leben."

Stampfl war auch in diesem Moment nicht um eine spitze Bemerkung verlegen: „Bannister ist nicht sehr fit", murmelte er, als er seinen Zustand sah.

Ein riesiges Durcheinander entstand. Zuschauer stürmten auf die Laufbahn, sodass sich die letzten Läufer ihren Weg gar nicht ins Ziel bahnen konnten. Bannister wurde hochgehoben. Stampfl unterstützte ihn bei den ersten Schritten nach dem Rennen und hielt ihn auf den Beinen. „Did I do it?", waren seine ersten Worte. „I think so", sagte Stampfl. Drei Kampfrichter verglichen ihre handgestoppten Zeiten. Alle hatten sie das gleiche Ergebnis.

Dann ging Norris McWirther zum Mikrophon, der Sprecher der Veranstaltung, ein Sportjournalist, enger Freund Bannisters und späterer Gründer des „Guinness Book of Records", und seine gut eingeübte Durchsage erklang über die Lautsprecher:

 

„Ladies and gentlemen, here is the result of event number 9, the one mile …"

 

Andreas Maier –  Auszug aus dem Buch: „Franz Stampfl – Trainergenie und Weltbürger: Biografie eines Visionärs" von Andreas Maier, Verlag SportImPuls,

© SportImPuls Verlags GmbH, Salzburg-Wien 2013

 

Franz Stampfl – Trainergenie und Weltbürger: Biografie eines Visionärs
SportImPuls, Salzburg-Wien 2013
192 Seiten, Paperback, zahlreiche Abbildungen
ISBN 978-3-200-03366-5
€ 19,40 (D) | € 19,90 € (A)
office@sportimpuls.at

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author: GRR

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