Gebührende Sicherheit Sexuellem Missbrauch vorbeugen - aber wie? Robert Ide im Tagesspiegel ©LSB - NRW - Andrea Bowinkelmann
Gebührende Sicherheit – Sexuellem Missbrauch vorbeugen – aber wie? Robert Ide im Tagesspiegel
Jochen Keutel versteht die Welt nicht mehr. Der Jugendwart des SV Schmöckwitz-Eichwalde wollte alles richtig machen, deshalb verlangte er von einem seiner Jugendtrainer ein erweitertes Führungszeugnis, schickte ihn dafür zum Einwohnermeldeamt. Berliner und Brandenburger Sportvereine sind seit einem Jahr angehalten, dies zu tun, damit sie ihre Kinder und Jugendlichen nicht unwissentlich in die Obhut von verurteilten pädophilen Trainern geben. Bislang waren die Führungszeugnisse kostenlos.
„Eine vernünftige Sache“, dachte daher Keutel – bis das Amt Gebühren verlangte, 13 Euro. Nicht viel, aber doch empfindlich für ehrenamtliche Übungsleiter, die mit etwa 50 Euro Aufwandsentschädigung im Monat gerade mal ihre Benzin- und Telefonkosten decken können.
„Ich verstehe nicht, warum die Ämter unseren Kampf für den Kinderschutz behindern“, sagt Keutel. In einer neuen Anweisung des Bundesamtes für Justiz, die dem Tagesspiegel vorliegt, heißt es: „Wird für ehrenamtliche Tätigkeit eine Aufwandsentschädigung gezahlt, kommt eine Gebührenbefreiung nicht in Betracht.“ Auch wenn es nur eine kleine Hürde ist auf dem Weg zu besserem Kinderschutz, findet Berlins Landessportbundchef Klaus Böger die Anweisung „empörend“.
Dass eine neue Gebühr im Sport diese Aufregung auslöst, kann man als positives Zeichen werten. In Berliner Sportvereinen spielen und trainieren 220 000 Kinder, die von mehr als 50 000 Ehrenamtlern betreut werden. Bundesweit ist knapp ein Drittel der Kinder bis 14 Jahre in Sportvereinen organisiert. Insbesondere körperbetonte Sportarten wie Schwimmen und Turnen sind für mögliche Sexualtäter attraktiv. Nach mehreren Missbrauchsfällen im Berliner Amateurfußball ist der Sport sensibler geworden. Namen und Geburtsdaten von Jugendtrainern müssen inzwischen auf einem Meldebogen beim Berliner Fußballverband hinterlegt werden. Und seit einem Jahr gilt die Empfehlung, ein Führungszeugnis von den Betreuern zu verlangen.
Hilfsvereine wie Wildwasser e.V. weisen immer wieder darauf hin, dass gerade Sportvereine anfällig für pädophile Täter sind – wegen des unvermeidlichen Körperkontakts zwischen Betreuern und Betreuten und eines in Mannschaften durchaus möglichen Gruppendrucks. Erstmals aufgeschreckt wurde der Berliner Sport vor zwei Jahren durch einen Tagesspiegel-Bericht über einen durchs Land ziehenden Jugendtrainer mit pädophilen Neigungen. Er hatte erst in Frankfurt am Main eine Jugendmannschaft unter Alkoholeinfluss gesetzt und dann zum Strippoker gezwungen, bei dem er sich sexuell befriedigte. Nach seinem Rauswurf wiederholten sich die Ereignisse bei einem Klub in Darmstadt. Zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, wurde der Mann schließlich bei einem Verein in Berlin-Wilmersdorf vorstellig. Er bekam ein Team der F-Jugend zugeteilt. Diese Kinder sind zwischen sechs und acht Jahre alt. Erst eine besorgte Mutter, die Warnungen vor dem Trainer im Internet gelesen hatte, verhinderte einen von ihm organisierten Gruppenausflug.
„Das Einzige was hilft, ist Aufklärung“, sagt Böger. In Seminaren und auf Flyern werden Vereine darauf hingewiesen, an welchen Verhaltensweisen man pädophile Täter erkennen könnte. Zudem bemüht man sich darum, dass Berliner Ordnungsämter die Ausstellung der Führungszeugnisse nicht berechnen. Jugendwart Keutel in Eichwalde nützt das nichts. Er zahlt die Gebühr erst einmal aus der Vereinskasse: „Ich bin schon aus Prinzip nicht bereit, meine Trainer zahlen zu lassen.“
Denn nicht nur die Kinder, auch die Trainer verlangen Vertrauen.
Robert Ide im Tagesspiegel, Montag, dem 31. Oktober 2011
Nach Fällen in der Wuhlheide Missbrauch: Wo sind Kinder noch sicher? Robert Ide im Tagesspiegel
Nach den aufgedeckten Missbrauchs-Skandalen in Schulen und Kircheneinrichtungen muss nun der Blick auf die Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche geschärft werden.
Es ist der Horror für alle Eltern. Mit einem gutem Gewissen und in gutem Glauben schicken sie ihre Kinder in Freizeiteinrichtungen, in denen sie spielen und etwas lernen sollen. Dafür geben sie ihre Jungen und Mädchen in die Hände von ehrenamtlichen Betreuern, die sich im besten Falle aufopferungsvoll um sie kümmern, mit ihnen gemeinsam Teamgeist entwickeln, Selbstvertrauen aufbauen auch im Falle von Niederlagen, Körper und Geist trainieren. Helfer, die lernwillige Kinder scheinbar spielend belohnen, indem sie ihnen etwa die Schaffnerkelle in die Hand geben wie bei der Parkeisenbahn in der Wuhlheide. Fußballtrainer, die ihre Jungs oder Mädels nach einem verschossenen Elfmeter tröstend in den Arm nehmen.
Ein kleiner Schritt nur ist es von dieser Vertrautheit, die jedes Kind braucht, bis hin zum Missbrauch des Vertrauens – mit lebenslangen Folgen. In der Wuhlheide haben Betreuer offenbar ein System geschaffen, das seit den Neunzigerjahren den sexuellen Missbrauch Minderjähriger zum Ziel hatte. Und auch der Berliner Sport sieht sich immer wieder mit pädophilen Tätern konfrontiert, die sich als Jugendtrainer andienen. Sie wissen: Näher als bei Sport und Spiel können sie ihren Opfern nicht kommen, vertrauter können sie ihnen kaum werden als in einem Verein.
Für Opfer und ihre Eltern ist im Nachhinein die Nähe unerträglich, die die Täter herstellen konnten. Wo sind Kinder überhaupt noch sicher? Nach den aufgedeckten Missbrauchs-Skandalen in Schulen, Internaten und Kircheneinrichtungen muss nun der Blick auf die Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche geschärft werden. Der Berliner Sport bemüht sich seit zwei Jahren, seine Trainer stärker zu kontrollieren, wird dabei aber zuweilen unnötig von der Bürokratie behindert. Aufklärung und Prävention müssen aber schon an der Wurzel beginnen – in Mannschaftskabinen, Jugendherbergen, auf Spiel- und Sportplätzen.
Wann wird Nähe zu nah, was darf ein Betreuer nicht anordnen? Kindern und Jugendlichen zu helfen, diese Grenzen zu erkennen und zu erzählen, wenn sie überschritten wurden, bleibt eine große Aufgabe nicht nur für Vereine und Freizeittreffs – sondern auch für die Eltern selbst. Die Scham eines Opfers ist der Komplize des Täters.
Robert Ide im Tagesspiegel, Montag, dem 31.10.2011