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2016

DLV-Präsident Clemens Prokop nennt die Spekulationen „abwegig“ ©DLV

Geänderte Olympianormen – Die Entdeckung der Lockerheit – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Der Vorgang ist unerhört. Erstmals in der Geschichte seines Sports erkennt der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) die Realität seiner in großen Teilen Doping-verseuchten Sportart dadurch an, dass er die Hürden für die Olympia-Nominierung senkt.

Die Zulassung deutscher Top-Athleten soll nicht vom Vergleich mit den Bestleistungen gedopter Konkurrenten abhängen.

„Wir haben eine Situation in der internationalen Leichtathletik, wie sie sich in dieser Deutlichkeit noch nie dargestellt hat“, sagt DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen. „In Russland ist systemisch gedopt worden, dazu kommt die Tendenz, dass es in weiteren Ländern so war und ist. Hinzu kommen die skandalösen Vorgänge um Diack.“

Doping wahrscheinlich auch im Läufer-Wunderland Kenia sowie Korruption an der Spitze des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF mit seinem langjährigen Präsidenten Lamine Diack, der Doper statt sie zu sperren, ihr Startrecht erkaufen ließ – all das hat jahrelang, womöglich jahrzehntelang den internationalen Wettbewerb verfälscht.

Die Leistungen gehen nach oben – auch ohne Russen

Doch im vergangenen Jahr gab es eine weitere Leistungssteigerung. Bei der Weltmeisterschaft in Peking lagen rund achtzig Prozent der Leistungen, mit denen Sportlerinnen und Sportler sich für die Halbfinals qualifizierten, über denen, die bei Olympia in London 2012 und bei der WM 2013 von Moskau für das Erreichen der Vorschluss-Runde reichten. Fast drei Viertel der Leistungen, mit denen Athleten sich in Peking für ihre Finals qualifizierten, übertrafen die entsprechenden Leistungen von London und Moskau.

Dabei fehlte die Mehrzahl der gedopten Russen in Peking. Das deutsche Fernsehen hatte deren systematisches Doping im Dezember 2014 entlarvt,
eine Ermittlungsgruppe der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) hat den Bericht bestätigt. „Wir haben uns vor dem Hintergrund der skrupellosen Verfehlungen in der internationalen Leichtathletik in der Verpflichtung gesehen, einen Ausgleich der Interessen und der Chancen für unsere ehrlichen Athleten vorzunehmen“, sagt Kurschilgen.

Siebzehn von 43 Normwerten, vom Marathon bis zum 400-Meter-Lauf, hat das Präsidium des für die Olympia-Nominierung zuständigen Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) deshalb, wie dieser am Mittwoch mitteilte, auf Antrag des DLV gesenkt. 90 Leichtathleten, zehn mehr als bislang absehbar, werden sich nach der Hochrechnung des DLV damit wohl für die deutsche Olympiamannschaft qualifizieren. „Eine außergewöhnliche Situation“, urteilt Kurschilgen, „erfordert außergewöhnliche Maßnahmen.“

Marathonläufer profitieren

Doch womöglich ist der Skandal nur die halbe Wahrheit. „Das hat der DOSB nicht ganz freiwillig entschieden“, vermutet der Regensburger Marathonläufer Philipp Pflieger.

Im September vergangenen Jahres brachte er bei seinem Debüt in Berlin die Strecke in 2:12,50 Stunden hinter sich – mehr als deutlich innerhalb des Zeitrahmens von 2:19 Stunden, auf den die IAAF ihre Zulassung im November erweiterte. Der deutsche Verband aber verlangte 2:12,15 Stunden, denn der DOSB nimmt nur Sportlerinnen und Sportler mit, die eine „qualifizierte Endkampfchance“ haben, die es in der Leichtathletik also in die Top acht schaffen können.
 
Statt im Frühjahr einen zweiten Versuch zu unternehmen, die Zeit zu unterbieten, machte sich Pflieger gemeinsam mit seinem Regensburger Vereinskameraden Julian Flügel (2:13,57 Stunden) auf den Rechtsweg.

Der Düsseldorfer Anwalt Paul Lambertz drohte, auch im Namen weiterer Athleten, DLV und DOSB mit Klage wegen kartellrechtswidriger Behinderung der Athleten bei der Ausübung ihres Berufes und unbilliger Benachteiligung.

„Es gibt keinen sachlichen Grund für die Verschärfung der Norm“, sagt er. „Die Rolle des Verbandes ist, alles dafür zu tun, dass der Athlet bei den Olympischen Spielen starten kann.“

DLV-Präsident Clemens Prokop nennt die Spekulationen „abwegig“

Bevor am Mittwoch die Pressemitteilung von den gesenkten Normen verschickt wurde, erhielt Lambertz vom Justiziar des DOSB die Nachricht, dass die Norm bei den Männern auf 2:14 und bei den Frauen auf 2:30 Stunden verringert worden sie, Pflieger und Flügel mit ihren Bestzeiten von Berlin nun innerhalb der deutschen Norm liegen. Zur Qualifikation müssen sie bei einem Halbmarathon nachweisen, dass sie immer noch schnell laufen – und der zweit- und drittschnellste deutsche Marathonläufer hinter Arne Gabius (2:08,33) bleiben.

Lambertz hat zum Thema Nominierung im deutschen Sport promoviert und hat während seines Referendariats ausgerechnet bei Michael Lehner gearbeitet, als dieser mit der Klage des Dreispringers Charles Friedek gegen seine Nicht-Nominierung für Olympia 2008 in Peking befasst war. Der Bundesgerichtshof hat im Oktober geurteilt, dass der DOSB Schadensersatz zu leisten habe.

Prokop weist Spekulationen zurück

„Ziemlich abwegig“ nennt DLV-Präsident Clemens Prokop, Direktor des Amtsgerichts Regensburg, die rechtlichen Ausführungen von Lambertz. Sie hätten keinerlei Einfluss auf die Haltung seines Verbandes bei der Bestimmung der Normen gehabt. Auch Kurschilgen besteht darauf, dass keinerlei juristische Notwendigkeit für eine Änderung der Normen bestanden habe. Dies sei – schon im Dezember vor den Schreiben der Anwälte entschieden und auf der Verbands-Homepage dokumentiert – allein vor dem Hintergrund der internationalen Leichtathletik und einiger völlig überhöhter Normen etwa bei Diskus und Hammerwurf geschehen.

Für die Athleten, die mit dem Kadi drohten, habe dies keinerlei Konsequenzen. „Es ist das gute Recht eines jeden Athleten, dass er sich mit juristischem Beistand einbringen kann“, sagt der Sportdirektor. 2013 hatte der Hürdensprinter Matthias Bühler (Offenburg) vergeblich versucht, sich in die Mannschaft für die Weltmeisterschaft in Moskau einzuklagen.

„Es wäre eine boshafte Unterstellung“, sagt Kurschilgen, „zu behaupten, dass juristische Einwendungen Konsequenzen für die Athleten hätten.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 27. Januar 2016

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