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18
03
2025

Die Gruppe am Start - Foto: Erdmute Nieke)

Gabriele Tergit, 1947: „Ich würde keinen Nazi in die Gesellschaft der Menschen aufnehmen!“ Bericht über den 7. Frauentagslauf für alle Geschlechter in Berlin am 8. März 2025

By GRR 0

Mit einem Buch fing es an. Gabriele Tergit „Etwas Seltsames überhaupt – Erinnerungen“ – Ich bekam es von einer treuen Freundin der Erinnerungsläufe geschenkt.

Gabriele Tergit? Wer ist das? Noch nie gehört!

15 Menschen laufen und radeln zum Frauentag 2025 elf Kilometer durch Berlin und versuchen dabei der Berlinerin, der promovierten Historikerin, der Journalistin, der ersten weiblichen Gerichtsreporterin, der Schriftstellerin, der Ehefrau, der Mutter und der liberalen Jüdin Dr. Elise Hirschmann, verheiratete Reifenberg – die sich selbst Gabriele Tergit nennt – auf die Spur zu kommen.

88 Lebensjahre von Gabriele Tergit (1894-1982) erleben wir auf der Laufstrecke. Wir starten am S-Bahnhof Tiergarten. Hier ist ihre letzten Berliner Wohnung, in der sie mit ihrer Familie von 1928 bis 1933 lebt. Sie erzählt uns selbst (der Deutschlandfunk macht es möglich: https://www.deutschlandfunk.de/gabriele-tergit-berichte-vom-hakenkreuz-am-richtertisch-100.html), wie sie in der Nacht des 4. März 1933 vom Sturm 33 – einer SA-Gruppe aus Charlottenburg – einen sehr unschönen Besuch in Form einer Hausdurchsuchung bekommt und einer Festnahme nur knapp entgehen kann. Am nächsten Morgen verlässt sie Deutschland und kehrt erst 1948 – nur noch besuchsweise – nach Deutschland zurück.

Die Bücher von Gabriele Tegit am Start – Foto: Dina Fiehn

Wir fahren – wie vor 100 Jahren Gabriele Tergit – mit der S-Bahn von ihrer Wohnung zu ihrem Arbeitsplatz beim Berliner Tageblatt im Mosse-Haus im Zeitungsviertel. Am S-Bahnhof Friedrichstraße starten wir unseren Lauf. Wir laufen durch Gabrieles Leben: Einer ihrer Studienorte ist die heutige Humboldt-Universität. Ihr Arbeitsort ist das Mosse-Haus, ihr Journalist:innen-Stammtisch ist im Capri auf der Anhalter Straße, die Gabriele-Tergit-Promenade am Potsdamer Platz, ihre Schule in der Pohlstraße, zwei der elterlichen Wohnungen in der Cornelius- und der Stülerstraße, der Rowohlt-Verlag in der Passauer Straße, das berühmte Romanische Cafe am Ort des heutigen Europa-Centers und das Hotel Zoo auf dem Kurfürstendamm.

Die Gruppe vor der Humboldt-Universität – Foto: Manuela Mühlhausen

Wir hinterlassen an den Orten rote Rosen für sie und lesen unterwegs zwei ihrer Gerichtsreportagen, sehen Bilder von ihr, ihrer Familie, ihren Freund:innen und ihren Lebensorten in Berlin und ab 1933 in Tschechien, Palästina und London.

Neben ihren unzähligen Gerichtsreportagen hat Gabriele Tergit 1931 ihren ersten Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ bei Rowohlt veröffentlicht und ist im Welt-Spiegel gemeinsam mit Erich Kästner zur beliebtesten Persönlichkeit gekürt wurden. Wir hören von Gabrieles Kritik am aufkommenden Nationalsozialismus. Bereits 1931 betitelt Goebbels sie im „Angriff“ als „miese Jüdin“.

Im Mosse-Haus vor einer Setzmaschine von 1922 – Foto: privat

Uns fasziniert die Aktualität ihrer Texte, ihre Kritik an der NSDAP und den sozialen Problemen der Weimarer Republik. So fordert sie die Abschaffung des §218 oder für Minderjährige keine Sittenpolizei, sondern Pflegeämter.

Aus ihrem ersten Nachkriegsroman „Der erste Zug nach Berlin“ von 1947 stammt das Zitat, das als Motto über diesem Frauentagslauf steht: „Ich würde keinen Nazi in die Gesellschaft der Menschen aufnehmen!“

Noch vieles von Gabriele Tergit könnte hier erzählt werden, über ihre fünf Jahre in Palästina und ihre 44 Jahre in London, über die Mühen für ihren großen Roman „Effingers“ nach dem Krieg einen Verlag zu finden, über ihre vielen noch unveröffentlichten Texte, über ihren Blick auf das geteilte Nachkriegsdeutschland mit ihrer Kritik am fehlenden Willen sich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinanderzusetzen.

Wir haben für die 88 Lebensjahre von Gabriele Tergit drei Stunden gebraucht, das Wetter war frühlingshaft warm und sonnig. So konnten wir uns Zeit lassen, um uns in Gabrieles Zeit und in ihr Leben hinein zu versetzen.

Das Straßenschild erhält eine Rose – Foto: Dina Fiehn

Am Ende des 7. Frauentagslaufes gab es ein frisches alkoholfreies Störtebecker, dazu ein Erinnerungsheft. Außerdem bekamen alle einen Zimtstern und ein Vanillekipfel – diese mochte Gabriele besonders gern – in Erinnerung an ihre Münchner Mama.

Vor der Ausstellung über das Romanische Cafe im Europa-Center – Foto: Manuela Mühlhausen

Gabriele Tergit oder auch Dr. Elise Hirschmann, verheiratete Reifenberg hat am Frauentag 2025 neue Fans gefunden! 15 Menschen, die nicht mehr sagen: Wer ist das?

Mögen es noch viel mehr werden, denn ihre Gedanken und Texte sind aktueller denn je: „Ich würde keinen Nazi in die Gesellschaft der Menschen aufnehmen!“

Dr. Erdmute Nieke

http://www.lauffreude.berlin

Wer ist Detlef Kuhlmann? Eine Spurensuche in der Festschrift von Dr. Erdmute Nieke

 

 

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