Bereits die Vorfahren des modernen Homo sapiens besassen laut Wagner die latente Fähigkeit zu schreiben und zu lesen. Foto: iStock, Norbert Hentges/Universität Zürich - UZH
Evolution – Talente im Dornröschenschlaf – Universität Zürich – UZH – Stefan Stöcklin
Die Natur bringt unermüdlich neue Variationen hervor, von denen viele nicht genutzt werden, sagt Evolutionsbiologe Andreas Wagner. Wenn sich die Umweltbedingungen ändern, werden diese schlafenden Innovationen geweckt.
Die Natur steckt voller schlummernder Talente. Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen besitzen zahllose Fähigkeiten, die sie meist nicht brauchen, die ihnen aber das Überleben sichern, wenn sich die Umweltbedingungen verändern. «Schlafende Innovationen sind überall und eine wichtige Triebfeder der Evolution», sagt Andreas Wagner.
Seit gut dreissig Jahren erforscht der Evolutionsbiologe und Bioinformatiker, wie sich Organismen entwickeln und anpassen. Er arbeitet dazu experimentell mit Laborversuchen und mit Berechnungen, um seine Theorien und Ideen zu testen.
Resistenz im Urwald
«Die Existenz schlafender Innovationen ist offensichtlich», sagt Wagner – und nennt als Beispiel eine erstaunliche Entdeckung bei den Yanomami, einem Volksstamm im Grenzgebiet des Amazonas zwischen Venezuela und Brasilien. Diese Volksgruppe lebt abgeschottet und hatte bis vor wenigen Jahren kaum Kontakt zu anderen Menschen. Vor rund 15 Jahren besuchte eine Gruppe brasilianischer Mediziner und Ethnologen die Gruppe, um mehr über ihren Gesundheitszustand zu erfahren, und entnahm dazu auch Stuhlproben und mikrobielle Hautproben. Darin fanden die Forschenden zu ihrer grossen Überraschung Bakterien, die Resistenzen gegen acht verschiedene Antibiotika aufwiesen. Dies war völlig unerwartet, denn keiner der Indigenen hatte jemals Antibiotika eingenommen.
Schlafende Innovationen sind eine wichtige Triebfeder der Evolution.
Mittlerweile ist der Befund jahrtausendealter Resistenzen mehrfach bestätigt worden: So fanden Forscher in uralten Mammutknochen aus dem Permafrost oder auch in Erdproben tief aus dem Untergrund antibiotikaresistente Bakterien – also aus einer Zeit, als keine Antibiotika existierten. Das ist erstaunlich, denn normalerweise entwickeln sich Resistenzen in einem Wettkampf zwischen der Anwendung von Antibiotika und neuen Mutationen, die dem Bakterium die Abwehr des Wirkstoffs ermöglichen. Nicht so in den beschriebenen Fällen: Die Resistenzen waren offenbar schon seit Tausenden von Jahren vorhanden. «Die Bakterien besitzen latente Abwehrmechanismen, die sie vor Molekülen schützen, die sie dereinst zerstören könnten», sagt Andreas Wagner.
Gestresste Bakterien
In einem Laborexperiment hat Wagner zusammen mit seiner Mitarbeiterin Shradda Karve kürzlich gezeigt, dass Bakterien auch experimentell dazu gebracht werden können, Innovationen zu entwickeln, die ihnen keinen unmittelbaren Nutzen bringen. Dazu setzten sie Darmbakterien mit einem Antibiotikum unter Druck, was dazu führte, dass sie sich schlechter vermehren konnten. Mit jeder neuen Generation konnten die Bakterien das Antibiotikum besser abwehren – sie entwickelten wie erwartet eine Resistenz. Im zweiten Schritt setzten die Forschenden die resistenten Bakterien über 200 verschiedenen Nährlösungen mit giftigen Inhaltsstoffen aus, die für die Bakterien neu waren. Und siehe da: Die evolvierten Bakterien zeigten auch Abwehrkräfte gegen zwanzig dieser Gifte, mit denen sie zuvor nie konfrontiert waren. Diese Resistenzen sind offenbar das Nebenprodukt einer nützlichen Abwehrreaktion gegen das ursprüngliche Antibiotikum. «Die Evolution erzeugt problemlos Innovationen», bilanziert Wagner. Sie bilden ein Reservoir, das zum Einsatz kommt, wenn sich die Umweltbedingungen ändern. Wie die Märchengestalt Dornröschen werden sie aus dem Schlaf geweckt.
Wagner nennt das Phänomen in seinem kürzlich erschienenen Buch «sleeping beauties». Das Konzept der schlafenden Innovationen fasziniert ihn. Und ist es einmal entdeckt, begegnet es einem auf Schritt und Tritt. Zum Beispiel bei den Gräsern, einer Familie mit tausenden von Arten, die heute viele Ökosysteme dominieren und als wichtige Nahrungspflanzen unser Überleben sichern. «Gräser waren während Millionen von Jahren spärlich verbreitet und wenig erfolgreich», sagt Wagner. Entstanden sind sie zur Zeit der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren. Ihr Siegeszug begann Jahrmillionen später, als das Klima trockener wurde. Dann konnten die grünen Pflanzen Eigenschaften ausspielen, die lange Zeit in ihnen schlummerten, wie ihr effizienter Umgang mit Wasser oder chemische Abwehrmechanismen gegen Schädlinge.
In der Werkstatt der Evolution
Für Wagner sind Gräser ein wichtiges Beispiel für die These, dass Innovationen entstehen, lange bevor sie ihrem Träger einen entscheidenden Überlebensvorteil bringen. Das gilt auch für die Evolution des Menschen, genauer den anatomisch modernen Homo sapiens, der vor rund 200000 Jahren die Bühne betrat. «Bereits diese Vorfahren hatten die latente Fähigkeit, zu schreiben und zu lesen», sagt Andreas Wagner. «Sie hätten auch Autos lenken können, wenn es diese damals gegeben hätte.» Der frühe Mensch besass also Fähigkeiten, die allerdings erst Zehntausende von Jahren später aktiviert wurden. So haben sich Schriftzeichen und Zahlen vor rund 12000 Jahren im Rahmen der Neolithischen Revolution entwickelt, als die Menschen sesshaft wurden und Buch über ihre Vorräte führen mussten. Die kulturelle Revolution brachte die Menschen dazu, ihre latent vorhandenen Fähigkeiten im Gehirn zu nutzen. Auch hier weckte eine sich verändernde Umwelt die schlafenden Talente.
Wie die Natur scheinbar mühelos Neues erzeugt, zeichnet sich dank neuen Einblicken in die genetische Maschinerie der Zellen immer klarer ab. Die Hauptrolle spielen dabei promiskuitive, das heisst vielseitig wirksame Enzyme und die Bildung neuer Gene. Heute wissen wir, dass die Organisation des genetischen Apparats redundanter und chaotischer ist, als bei der Entdeckung der DNA und der dazugehörigen Vorgänge wie der Enzymbildung vor gut fünfzig Jahren angenommen wurde. «Zellen sind keine fein abgestimmten Maschinen, stattdessen spielen zufällige Prozesse eine wichtige Rolle», sagt Andreas Wagner.
Bereits unsere frühen Vorfahren hatten die latente Fähigkeit, zu schreiben und zu lesen. Sie hätten auch Autos lenken können, wenn es diese damals gegeben hätte.
Ein Beispiel sind die Enzyme, die alle lebensnotwendigen Funktionen in den Zellen übernehmen und etwa in Bakterien dafür verantwortlich sind, dass Antibiotika wirken. Für die Enzyme hatte sich das Bild vom Schloss-Schlüssel-Prinzip eingebürgert, also die Vorstellung eines Enzyms, das genau auf eine Substanz passt und diese modifiziert. Unterdessen spricht man von promiskuitiven Enzymen, denn viele können ihre Struktur anpassen und nicht eine, sondern mehrere Substanzen erkennen und verändern. Dieses Phänomen liegt auch der früher beschriebenen Beobachtung von Bakterien zugrunde, die Abwehrkräfte gegen unbekannte Giftstoffe entwickelten. Denn die im Experiment evolvierten Enzyme sind promiskuitiv und funktionieren auch bei anderen Giften, gegen welche die Mikroorganismen keine direkten Abwehrstoffe gebildet haben. Bei dieser Vielseitigkeit handelt es sich eher um die Regel als eine Ausnahme: «Die meisten Enzyme sind promiskuitiv», sagt Andreas Wagner. Die enzymatischen, das heisst chemischen Lebensprozesse, sind erstaunlich flexibel und damit auch der gesamte Stoffwechsel.
Häufig und billig
Fluider als gedacht ist auch die Organisation des Genoms, das heisst der Gene in den Chromosomen. Seit der Sequenzierung der menschlichen DNA wissen wir, dass nur knapp drei Prozent des Genoms aktive, sogenannt kodierende Gene sind. Ein grosser Teil des Genoms hingegen dient als Versuchsfeld, wo die DNA in eine proaktive Form (RNA) umgeschrieben wird, sich zufällig neu zusammensetzen und neue Genformen durchspielen kann. Neue Gene können auch durch Mutationen und Duplikationen der DNA entstehen – kurz, neue Gene werden laufend gebildet und können sich fest im Genom etablieren.
«Genetische Innovationen in der Natur sind nicht einzigartig und selten, sondern häufig und billig», sagt Wagner dazu. Veränderte Umweltbedingungen können diese schlafenden Innovationen wecken und den Organismen einen entscheidenden Überlebensvorteil bringen. Allerdings gehen Innovationen auch wieder verloren. Die Natur entwickelt laufend neue Genvariationen und verwirft sie unter Umständen wieder, wenn sie unnütz sind.
Angesichts dieser versteckten Talente könnte man die Frage stellen: Ist die Natur und speziell der Mensch dank schlummernden Fähigkeiten gegen die Unbill der Klimaerwärmung gewappnet, genauer gesagt gegen Hitzewellen und Rekordtemperaturen? Bei dieser Frage muss der Evolutionsbiologe passen: «Ich habe absolut keine Antwort darauf.»
Es gebe zwar Mikroorganismen, die in heissen Quellen lebten, und experimentell kann man in Bakterien eine gewisse Hitzeresistenz evolvieren – allerdings sind dazu Hunderte, wenn nicht Tausende von Generationen nötig. Im Fall des Menschen würde dies Zehntausende von Jahren dauern. Wir können also nicht auf genetische Innovationen setzen, um uns evolutiv vor der Klimaerwärmung zu retten.
Buchhinweis: Sleeping Beauties, Oneworld Publications, 2023
Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen UZH Magazin «Kostbare Vielfalt»