Das Zielfoto war bei Redaktionsschluss noch nicht entwickelt, aber gefühlt betrug Heris Vorsprung nur einen Wimpernschlag
Eßlinger Zeitung Lauf am 3. Juli 2011 – Mein Krampf – Tom Fuchs in der Eßlinger Zeitung
Sportler wissen, wovon ich rede. Es ist ein innerer Drang, fast schon eine Zwangsneurose. Dieser unheilbare Ehrgeiz, es sich selbst und allen anderen um jeden Preis und aus Prinzip zeigen zu müssen. Ja, es klingt sehr martialisch. Und ja, es entspricht trotzdem der Wahrheit. Deshalb will man sich mit den Besten messen, wenn man die Chance dazu bekommt.
Heritier Kambuya ist einer der Besten. Er ist 14, ein Laufwunder, hoch veranlagt und sehr gut zu Fuß. Aber er ist 14. Bei allem Respekt! Ich hingegen bin (theoretisch) an der Spitze meiner physischen Leistungsfähigkeit angekommen und musste es deshalb einfach probieren: einmal die Runde des EZ-Laufs – in Heris Tempo.
Schon nach wenigen Metern kommt dieses ekelhafte Gefühl in mir hoch, das man hat, wenn man ein Wiener Schnitzel bestellt und feststellt, dass der Hunger nur für einen kleinen Wurstsalat ausreicht. Kurz: Ich habe mich übernommen. Aber ich muss standhaft bleiben – aus Prinzip. Heris Tempo ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Während er fast schon grazil über die Kopfsteinpflaster gleitet, hechele ich mit ein paar Metern Abstand hinterher.
Er kennt den Kurs, jede Kurve – bei ihm sieht es so leicht aus. Ich ringe nach Luft, bin mir sicher, dass ich jeden Moment kollabiere, wenn ich nicht umgehend ins Sauerstoffzelt gebracht werde. Jeder Meter wird zur Qual, aber, nein, ich kann einfach nicht aufgeben – nicht jetzt. Noch 500 Meter bis zum Ziel. Heri legt nochmals zu. Mein Abstand beträgt nur fünf Meter, als mich ein Wadenkrampf heimsucht. Ich beiße mich durch, bleibe an ihm dran. Noch 100 Meter, 50, 25… die letzten Reserven werden mobilisiert…noch ein Krampf…wenige Meter…und im Ziel sind wir fast gleichauf. Ein echtes Fotofinish.
Das Zielfoto war bei Redaktionsschluss noch nicht entwickelt, aber gefühlt betrug Heris Vorsprung nur einen Wimpernschlag. Im Ziel sacke ich zusammen, bin völlig ausgelaugt. Heri, dem man keine Anstrengung ansieht, blickt leicht abfällig zu mir rüber, als wolle er sagen: „Wie sähst du erst aus, wenn du nicht das Fahrrad gehabt hättest?!"
Tom Fuchs in der Eßlinger Zeitung, Donnerstag, dem 16. Juni 2011
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