Die Leichtathletik-Europameisterschaften 2022 sind bereits Geschichte. Für viele, die diese Europameisterschaften gelobt haben, wird dieses Ereignis sehr bald in Vergessenheit geraten und durch neue große sportliche Ereignisse abgelöst werden.
Lediglich als Bezugspunkt in Vergleichen wird München in der Erinnerung aufleben, dann, wenn sich etwas anderes als damals bei den European Games von München ereignet, wenn Fehler auftauchen, die auf Probleme verweisen, die in München besser gelöst wurden.
München 2022 war neben der WM in Stuttgart 1993, der EM in München 2002, der EM 2018 in Berlin und der WM 20o9 in Berlin für die deutsche Leichtathletik eines der bedeutsamsten Ereignisse in der mehr als 100-jährigen Leichtathletik-Geschichte.
München wies in der Tat einige kennzeichnende Merkmale auf, die zuvor in der Leichtathletik in dieser Konstellation wohl noch nicht aufgetreten sind. Dies gilt für die Leistungsbeurteilungen durch die Öffentlichkeit ebenso wie für die Darstellung der leichtathletischen Ereignisse in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Es gilt auch für das geschlossene Auftreten unserer Nationalmannschaft, für die solide und gute Betreuung durch einige Trainer¹. Es gilt meines Erachtens auch für die Verknüpfung des Rahmenprogramms mit dem leichtathletischen Ereignis und für die sportpolitischen Weichenstellungen, die sich durch die European Games eröffnet haben. Bei aller Dankbarkeit für das Gelingen dieses Großereignisses ist für jene, die Verantwortung für die deutsche Leichtathletik übernommen haben, dennoch Nüchternheit geboten.
Die Leichtathletik wird wie keine andere Sportart in der Welt in erster Linie an den Leistungen ihrer Spitzenathleten gemessen. Laufen, Werfen und Springen sind ohne Zweifel ein Fundament jeglichen Sporttreibens. Laufen, Werfen und Springen sind die Grundelemente nahezu aller Sportarten. Laufen, Werfen und Springen sind die pädagogisch bedeutsamen Inhalte eines sinnvollen Schulsports. Dennoch wird die deutsche Leichtathletik nicht an einer Breitensport-Leichtathletik gemessen.
Die sportpolitischen Erfolge des DLV werden nicht an der „Lauf-Bewegung“ abgelesen. Vielmehr zählt – manchmal muss man schon sagen „leider“ – einzig und allein die Leistungsbilanz der Nationalmannschaft bei Europa- und Weltmeisterschaften und bei Olympischen Spielen. Die offene Frage, die sich dabei stellt, und die zu beantworten ist, lautet: Was wollen wir unter „Leistung“ in der Leichtathletik verstehen? Wie werden von uns Spitzenleistungen in der Leichtathletik definiert? Nicht weniger offen ist die Frage, wie solche Spitzenleistungen in einer freien, offenen Gesellschaft, in der wir gemeinsam leben, hervorgebracht werden können.
München hat uns auch diesbezüglich wichtige Hilfestellungen an die Hand gegeben. Einmal mehr hat sich gezeigt, dass die Leichtathletik auf nahezu ideale Weise das Leistungsprinzip in unserer Gesellschaft repräsentieren kann. Die Gütemaßstäbe, an denen die Leistungen in der Leichtathletik gemessen werden, sind jedoch zu überprüfen. Sie sind ohne Zweifel nach wie vor im CGS-System verankert. Im Zentrum einer individualistischen Leichtathletik hat jedoch die individuelle Leistung des Athleten zu stehen und die ihm möglichen Gütemaßstäbe sind dabei zu beachten.
Die persönliche Bestleistung des Athleten, eine systematische Leistungssteigerung, orientiert an den persönlichen Möglichkeiten unserer Athleten, dies sind die Kernpunkte, an denen sich eine Leistungsförderung in der deutschen Leichtathletik zu orientieren hat. Auf dieser Basis sind nach wie vor internationale Erfolge möglich, ist das Erreichen von Gold-Medaillen, von 1., 2. und 3. Plätzen nach wie vor das zentrale Ziel des Verbandes und seiner Athleten. Es kommt dabei auf die richtig gesetzten Prioritäten an.
Eine athletenorientierte Sportförderung des DLV muss ernst machen mit der Aussage, dass der mündige Athlet im Zentrum der Sportförderung zu stehen hat.
Tut man dies, so ist zuerst von der Betreuungsarbeit und den Dienstleistungen in der Spitzenleichtathletik zu sprechen. Damit sind jene Probleme genannt, die die Trainer und Trainerinnen in einer selbstkritischen Haltung schon längst selbst erkannt haben. In der Tat macht die personelle Dienstleistungsstruktur im Bereich des Spitzensports der Leichtathletik Sorgen. Dies hängt zum einen mit der kritischen öffentlichen Finanzsituation, zum anderen mit der Leistungssituation in den einzelnen Disziplinen der Leichtathletik zusammen. Aber auch dem Aus- und Weiterbildungsniveau und der Kompetenz der Trainer kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu.
Das erste Problem zwingt uns, die Personalstruktur zu überdenken, Tätigkeiten dort, wo sie von mehreren geleistet werden, auf weniger Personal zu reduzieren und insgesamt bei knapper werdenden Finanzen die Frage der Arbeitsplatzqualität neu zu beantworten. Die Frage ob zum Beispiel Bundestrainer in der Leichtathletik weiterhin benötigt werden, bedarf einer schonungslosen und offenen Beantwortung.
Das zweite Problem verweist auf den Sachverhalt, dass trotz einer relativ extensiven Betreuung der Athletinnen und Athleten durch Trainer und Trainerinnen und hauptamtliches Betreuungspersonal die Erfolge nicht in jener Weise zu erkennen sind, wie sie angesichts dieser qualitativen und quantitativen Investitionen wünschenswert wären. Eine selbstkritische Trainer- und Trainerinnenschaft hat zu bilanzieren, dass es in unserer offenen deutschen Gesellschaft außerordentlich schwierig geworden ist, junge Menschen, Kinder und Jugendliche an sportliche Höchstleistungen in der Leichtathletik heranzuführen, und dass es besonders kluger Konzepte bedarf, wenn man in der internationalen Leichtathletik in der weiteren Zukunft konkurrenzfähig bleiben will.
Hat diese Probleme im Blick, so sind m.E. verschiedene Reformen bzw. neue Projekte notwendig.
Sechs Einzelprojekte sollen im Folgenden etwas genauer skizziert werden:
- Zum einen muss die Betreuung der Spitzenleichtathletik durch die hauptamtlichen Mitarbeiter effizienter werden. Will man dies erreichen, so ist die Abteilung Leistungssport innerhalb des DLV neu zu strukturieren und zu modernisieren, wobei hierzu auch neues Personal benötigt wird. Die bestehenden vertraglichen Arbeitsverhältnisse müssen durch neue Kriterien zu Leistungserwartungen und durch Bonusanreize verändert werden. Diese Reform muss zum Ziel haben, dass die Abteilung Leistungssport von einem „Direktor für Leistungssport“ (auch andere Titel sind denkbar) zu führen ist. Diesem Direktor sollten fünf Teilabteilungen für folgende Belange unterstellt sein:
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- Betreuung der Athletinnen und Athleten, Karriere und Sozialbetreuung
- Betreuung der Trainer und Trainerinnen, Fortbildung des Trainerpersonals
- Trainings- und Wettkampfplanung, Wettkampf-durchführung und -auswertung
- Talentsuche und Förderung des Nachwuchses
- Auswertung, Koordination und Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse
- Zweitens sollte angestrebt werden, das Amt des ehrenamtlichen Vizepräsidenten abzuschaffen. Die hauptamtliche Leitung der Abteilung „Olympische Leichtathletik“ sollte vielmehr einem hauptamtlichen Vorstand des Verbands angehören. Die ehrenamtliche Führung des DLV sollte zukünftig die Funktion eines Aufsichtsrats übernehmen. Dieser müsste allerdings seiner Aufsichtspflicht sehr viel sorgfältiger nachkommen als dies in der Vergangenheit bislang der Fall gewesen ist. Auf diese Weise kann die Abteilung „Olympische Leichtathletik“ professioneller arbeiten, ist weniger von den zeitaufwendigen Entscheidungen ehrenamtlicher Gremien abhängig und kann direktere Dienste gegenüber jenen erbringen, die die eigentliche Spitzenleichtathletik ausmachen.
- Eine dritte Reform hat sich auf die Betreuungsstrukturen der Athleten selbst zu beziehen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit muss dabei jener Ort sein, an dem in Deutschland Spitzenleichtathletik betrieben wird. Wie wir wissen, sind dies leider nur noch wenige Orte, von denen man zu Recht sagen kann, dass dort Spitzenleichtathletik zu Hause ist. Es sind „kleine Nester“ auf dem Lande mit wenigen Athleten und wenigen „verrückten“ Heimtrainern. Es sind aber auch einige Großvereine wie jene von Wattenscheid, Sindelfingen, Leverkusen, Chemnitz, Regensburg, München und Berlin. Betrachtet man diese Orte etwas genauer, so kann man beobachten, dass die Entwicklung der Spitzenleichtathletik nach wie vor auf die Nachwuchsarbeit der Vereine angewiesen ist. Diese darf weder durch Leistungszentren noch durch sportbetonte Schulen oder durch Olympiastützpunkte in Frage gestellt werden. Der Verein als Basis des Spitzensports ist jedoch keine Selbstverständlichkeit mehr. Diese Basis muss angesichts der Karriere des Freizeit- und Gesundheitssports im Verein erkämpft, verteidigt und vor allem auch pädagogisch und kulturpolitisch legitimiert werden. Hierzu bedarf es eines neu zu konzipierenden Projekts „Basis- Leichtathletik“ in den bestehenden Vereinstrukturen, bei dem es auch um die Neugründung von Kinder- und Jugendleichtathletikabteilungen gehen muss. Erforderlich sind dabei „Start-up“ Initiativen mit einem entsprechenden Anreizsystem für die Gründer von neuen Leichtathletik- Trainingsgruppen.
- Kaum weniger wichtig erscheint mir in Bezug auf die zukünftige Erfolge ein viertes Projekt. Für die Athletinnen und Athleten, die den höchsten Kadern (Olympia– bzw. A- Kader) angehören und die Sportart Leichtathletik professionell betreiben, bedarf es dringend einer strukturellen Veränderung. Die finanzielle Förderung durch den Verband sollte an die Bedingung geknüpft werden, dass die Förderung nur dann gewährt wird, wenn die Athletinnen und Athleten einer Disziplin (z.B. Hammerwurf) bzw. einer Disziplinengruppe (z.B. Sprint) an einem klar definierten Trainingsort eine Trainingsgemeinschaft gemeinsam mit ihren Trainerinnen und Trainern bilden, um auf diese Weise eine ständige Trainingskonkurrenz, eine optimale Weiterbildung der Trainer und Trainerinnen sicherzustellen und den Athletinnen und Athleten eine optimale trainingswissenschaftliche und medizinische Betreuung zu ermöglichen. Auf der Grundlage eines Ausschreibung- und Bewerbungverfahrens sollten maximal fünf „Schwerpunktstandorte“(geographisch sinnvoll verteilt) für die deutsche Leichtathletik definiert und eingerichtet werden. Ausstattung und Umfeld jedes Schwerpunkts bedarf dabei einer genauen Definition und professionellen Organisation (medizinische Betreuung, psychologische Betreuung, Karriere und Sozialberatung etc.) Hierzu muss auch die Anwerbung international erfolgreicher Trainer für die zu definierenden Schwerpunktdisziplinen der deutschen Leichtathletik gehören.
- Fünftens bedarf es einer „Bildungsinitiative“ zu Gunsten der Athletinnen und Athleten. Nicht nur in jüngster Zeit hat es sich gezeigt, dass die Mitglieder der Leichtathletik-Nationalmannschaften nur ganz selten über ein ausreichendes Wissen über die Strukturen des Hochleistungssports im allgemeinen und der Spitzenleichtathletik im speziellen verfügen. Antworten auf Fragen wie „über welche Einnahmen ihr Verband verfügt, für was er seine Einnahmen ausgibt, mit welchen Mitteln die Förderung der Athleten erfolgt, welche Leistungen übergeordnete Sportorganisationen wie zum Beispiel das IOC oder der DOSB für die deutsche Leichtathletik- Nationalmannschaft aufwendet, wie der DLV sein Personal aus wählt sind den meisten Mitgliedern der Leichtathletik- Nationalmannschaft gar nicht oder nur sehr schwer zugänglich. Für das „DLV- Bildungsprojekt“ ließen sich noch eine Reihe weiterer Themen finden. Sie alle weisen darauf hin, dass solch ein Projekt auf Dauer angelegt sein muss, und zu den Pflichtaufgaben der Betreuer der Nationalmannschaft gehören sollte.
- Schließlich ist sechstens wichtig, dass das jeweilige Athlet-Trainerverhältnis funktioniert und dass alles getan wird, dass in diesem Verhältnis in Ruhe gearbeitet werden kann, um jene leichtathletischen Spitzenleistungen zu erbringen, die wir auf der Grundlage unserer Förderung von diesem Duo erwarten.
Von diesen hier skizzierten Projekten und Bedingungen ist meines Erachtens die Zukunft der Spitzenleichtathletik in Deutschland grundlegend abhängig.
Ist diese Annahme von der Zukunft der Spitzenleistungen in der Leichtathletik richtig, so müssen wir nunmehr prüfen, welche Dienstleistungen vom Dachverband, vom Landesverband und vom Verein zu erbringen sind, damit das Duo „Trainer/Athlet“ möglichst ungestört seine Leistungen hervorbringen kann. Will man die Probleme der Leichtathletik lösen, so sind offene Diskussionen vonnöten. Diskussionen, die durch Vorurteile und Unterstellungen geprägt sind, helfen hier nicht weiter. Es macht auch keinen Sinn, sich lediglich als Fachmann zu bezeichnen, in den Auseinandersetzungen dann aber auf fachliche Argumente zu verzichten. Wir benötigen eine kluge Auseinandersetzung, die auf Argumenten beruht. Wir benötigen dabei auch die Bereitschaft, von anderen vorgetragene Argumente, die besser sind, zu akzeptieren, aber auch die Fähigkeit, eigene gute Argumente zu verteidigen, wenn man davon überzeugt ist, dass sie durchzusetzen sind. Am Ende müssen konsensfähige Kompromisse stehen. Dies müssen jedoch solche Kompromisse sein, die der Sache dienen und die uns in der Sache weiterbringen. Wir benötigen dabei nicht nur Modelle und Projekte und Versuchsmaßnahmen auf Zeit, wie dies heute in den Verbänden
leider viel zu oft der Fall ist. Wir benötigen vielmehr einen neuen Regelalltag in der Spitzenleichtathletik, der sich durch kluges Training, durch eine verantwortbare Belastung unserer Athleten, durch deren soziale Absicherung und durch ansprechende Erfolge auszeichnet.
All dies muss möglichst schnell erreicht werden. Unter finanziellen Gesichtspunkten sind die Grenzen eng gezogen. Deshalb sind aber auch die Termine für die einzelnen Reformschritte eng und zwingend zu setzen.
Nur jene Spitzenverbände werden sich der weiteren Förderung durch Staat und Wirtschaft sicher sein können, die sich selbst modernisieren und die dabei in selbstkritischer Weise den Nachweis erbringen, dass sie den neuen Herausforderungen gewachsen sind, die sich uns heute im internationalen Sport stellen.
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
Quelle: Prof. Dr. Helmut Digel bei SPORT NACHGEDACHT