Vor wenigen Tagen ist in Berlin eines der großartigen sportlichen Ereignisse des Jahres, das in Deutschland stattfindet, zu Ende gegangen.
Der 48. BMW Berlin-Marathon 2022 war einmal mehr ein außergewöhnliches Ereignis und die Laufzeiten der Sieger und Siegerinnen werden und wurden nicht nur von den zahlreichen Zuschauern bewundert, die die Läuferinnen und Läufer angefeuert haben. Sie finden Jahr für Jahr auch in der Welt des internationalen Hochleistungssports höchste Anerkennung und Beachtung.
Deshalb ist es angebracht, dieses besondere Ereignis noch etwas genauer zu beleuchten.
Die Fähigkeit zum Laufen gehört ohne Zweifel zu den bedeutsamsten kulturellen Möglichkeiten, die uns Menschen gegeben ist. Mit dem antiken Lauf von Marathon nach Athen hat diese Fähigkeit eine Ausprägung erhalten, die in ihrer Klassik auch in der zukünftigen Menschheitsgeschichte wohl kaum noch übertroffen werden kann. Als nicht weniger auffällig und herausragend muss jedoch auch der Sachverhalt bewertet werden, dass es nach mehr als 2500 Jahren gelingen konnte, ein in Vergessenheit geratenes Kulturmuster in einer Weise wieder zu beleben, wie es in der Kulturentwicklung der Menschheit so nicht angetroffen werden kann.
Mit der Wiedergründung der Olympischen Spiele ist es Coubertin nicht nur gelungen, der Welt mittels sportlicher Wettkämpfe ein Ereignis der Begegnung zu eröffnen, das sich durch die Idee des Friedens auf Zeit, durch Verständigung und durch ein Erziehungsmodell auszeichnet, das auch in diesen Tagen in vieler Hinsicht noch bedeutsam ist. Coubertin ist es dabei auch gelungen, die Idee des Marathonlaufes in Gesellschaften zurückzugeben, in denen die Gefahr eines körperlichen Stillstandes schon längst offensichtlich gewesen ist.
In den Industriegesellschaften am Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war jedoch das Laufen zunächst lediglich eine Angelegenheit einer Minderheit. Doch die Veränderungen in den Industriegesellschaften, der wachsende Wohlstand, die nunmehr vermehrt zur Verfügung stehende freie Zeit, die unübersehbar sich ausbreitenden Zivilisationskrankheiten, der Zeitgeist und manch anderer bedeutsamer Aspekt des sozialen Wandels in unserer Gesellschaft machten es möglich, dass der Laufsport zu einer Massenbewegung wurde, die ihresgleichen sucht. Davon zeugen nicht nur die vielen Lauftreffs, die es überall, nicht nur in Deutschland gibt, auch die vielen Straßenrennen sind Ausdruck dieser massenhaften Entwicklung.
Das Laufen ist dabei längst zu einer Sache von jeder Mann und jeder Frau geworden.
Auch die Kinder und Senioren wurde von dieser nicht nur sozial- und gesundheitspolitischen bedeutsamen Bewegung erfasst. So rannten 7.000 Kinder und Jugendliche schon im Jahr 2002 beim Mini-Marathon der Schulen in Berlin. Die Quote der teilnehmenden Frauen beim Berlin-Marathon hat bereits die 20% Marke überschritten. Waren es 1984 nur 463 Frauen bei insgesamt 8.121 Teilnehmern (5,5 %), so hat sich die Teilnehmerzahl der Frauen innerhalb von 15 Jahren beinahe vervierfacht und im Jahr 2002 konnten bereits 5.864 Frauen in einem Starterfeld von 32.752 Teilnehmern gezählt werden.
Die Zahlen verweisen auf einen ganz besonderen Marathon, auf den Berlin-Marathon und sie verweisen damit auf ein Symbol der Laufbewegung in Deutschland wie es ohne Zweifel einmalig ist. Wer läuft, wer dies regelmäßig tut, wer sich in seinen wöchentlichen Läufen an längere Distanzen heranwagt, für den wird die Teilnahme beim Berlin-Marathon sehr schnell zu einer einmaligen und für ihn wichtigen Herausforderung. Einmal dabei zu sein, einmal die besondere Distanz vor einer einmaligen historischen Kulisse gemeistert zu haben, das ist das Ziel eines jeden Freizeitläufers, bei dem der Funken übergesprungen ist und das Laufen zum Merkmal der eigenen Persönlichkeit geworden ist.
Der Berlin-Marathon ist jedoch nicht nur ein Laufereignis mit einer besonderen Qualität, er ist längst Zeitgeschichte geworden.
1974, als der Berlin-Marathon zum ersten Mal von Horst Milde und seinem SC Charlottenburg (SCC Berlin) organisiert wurde, war der Lauf auf Westberlin und auf den schönen Grunewald beschränkt und für die Läufer war dies ein schönes, jedoch äußerst begrenztes Lauferlebnis. 1981 gelang es dann Horst Milde die Laufstrecke durch West-Berlin auszuweiten und mit Unterstützung der Amerikaner war es sogar möglich, am Checkpoint Charlie vorbeizulaufen. (Der ungehinderte Zugang für Diplomaten nach Ost-Berlin) durfte dabei jedoch nicht gestört werden)
Seitdem ist der Berlin-Marathon ständig gewachsen und im Jahre 1990 war es dann so weit, drei Tage vor der Wiederveinigung am 30.9.1990, lief Steve Moneghetti (AUS) als Sieger eine Jahresweltbestzeit (2:08:16) und über dem Sieg von Uta Pippig (GER) von 2:28:37 – zum ersten Mal durch das Brandenburger Tor (seit über 30 Jahren der Trennung von West- nach Ost-Berlin und zurück) – waren die vielen Zuschauer begeistert.
Viele weitere großartige, von großen Zuschauermasen bejubelte Siege führten den Berlin-Marathon in die Klasse der weltbesten Läufe. In den Folgejahren verbesserten Antonio Pinto (POR), Sammy Lelei (KEN), Abel Anton (ESP), Simon Biwott (KEN), bei den Frauen Renata Kokowska (POL), Katrin Dörre-Heinig (GER) und Colleen de Reuck (RSA) und andere mehr jeweils die Streckenrekorde
Der Berlin-Marathon kann jedoch nicht nur eine deutschlandpolitische Bedeutung für sich in Anspruch nehmen. Er wurde zunehmend auch zu einem Fest der Begegnung und Verständigung der Kontinente. Afrikanische Läufer spielten dabei eine herausragende Rolle. Vermutlich gibt es aber auch keinen Marathon der Welt, in dem die Freundschaft zwischen Japan und Deutschland so intensiv gepflegt wird wie dies beim Berlin-Marathon der Fall ist. Der Frauenmarathon hat sich deshalb beim Berlin-Marathon schon längst zu einem Ereignis entwickelt, das in jeder Hinsicht dem Männermarathon ebenwürdig ist.
Uta Pippig hat dabei mit ihrem dreimaligen Erfolg Geschichte geschrieben und Tegla Loroupe (KEN) hat mit ihren 2:20:43, die 1999 Weltrekord waren, in ihrer einmalig sympathischen und lebensbejahenden Art dem ostafrikanischen Laufsport einen weiteren Höhepunkt beschert. Dann jedoch kamen Kazumi Matsuo (JPN) und vor allem Naoko Takahashi (JPN), der es zuletzt im Jahr 2001 und 2002 gelang der afrikanischen Dominanz japanische Klasse entgegen zu setzen.
Als erste Frau lief Naoko Takahashi 2001 in 2:19:6 unter zwei Stunden und 20 Minuten und demonstrierte damit einmal mehr, welche Möglichkeiten den Frauen auf der Bühne des Sports gegeben sind. Die verschiedenen Jubiläen des Marathons haben in der kurzen aber äußerst intensiven Marathongeschichte Berlins immer eine ganz besondere Rolle gespielt. Die Leichtathletik, zu deren Zentrum das Laufen gehört, kann für solche Ereignisse nur dankbar sein.
Gewiss hat die organisierte Leichtathletik mit dem Strassensport, mit den Marathonläufen und mit dem sich selbst organisierten Freizeitlauf einige Schwierigkeiten, über die zu Recht diskutiert wird. Vermutlich haben auch die Verbände der Leichtathletik weltweit in der Vergangenheit Fehler gemacht und damit nicht zuletzt bewirkt, dass sich der Laufsport außerhalb der Verbände auf eine äußerst positive Weise hat entwickeln können.
Für die IAAF und heute für World Athletics war uns ist dabei jedoch längst klar geworden, dass auf der Grundlage einer gelungenen Verständigung die Stadionleichtathletik, zu der der Marathonlauf in besonderer Weise gehört, durchaus mit den vielfältigen Formen das Laufsports zu vereinbaren ist. Veranstalter, wie die des Berlin- Marathons, verfolgen notwendigerweise eigene Interessen. Doch gleichzeitig haben die Veranstaltungen eine Wirkung weit über das jeweilige Ereignis hinaus.
Das Laufen als die besondere Idee der Leichtathletik, die dabei in einer ihrer schönsten Formen zur Darstellung gebracht wird, wird auf diese Weise in eindrucksvoller Weise kultiviert. Nicht zuletzt deshalb gehört die internationale Marathonorganisation AIMS (Association of International Marathons and Distance Races) zu den Mitgliedsverbänden von World Athletics und nicht zuletzt deshalb ist World Athletics an einer erfolgreichen Entwicklung des Berlin-Marathons auch weiterhin interessiert.
Die Veranstalter des Berlin-Marathons können längst auf eine großartige Erfolgsgeschichte ihres Marathons verweisen. 2018 erreichten 40.651 Läufer und Läuferinnen das Ziel. Aus einer eintägigen Veranstaltung ist eine zweitägige geworden. Rollstuhlfahrer, Hand-Biker, Inline-Skater und Kinder nehmen an eigenständigen Marathon-Rennen bei diesem besonderen Sportereignis Teil.
Der Berlin-Marathon hat neben New York, Boston und London die höchste Auszeichnung erhalten, die in der großen Welt des Marathons erreicht werden kann. Er ist längst auch zu einem Schrittmacher auf vielen Gebieten der Sporttechnik und der weiteren Entwicklung des weltweiten Laufsports geworden.
Seit 1990 gibt es auch ein kulturelles Begleitprogramm, man könnte von einem „Literatur-Marathon“ sprechen, bei dem u.a. Volker Schlöndorff und Günther Herburger aus ihren Werken gelesen haben. Mittlerweile gibt es noch viele weitere „Rahmenwettbewerbe“ wie z.B. das „Ökumenische Marathon-Gebet“ in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, die Vorstellung der „Marathon-Legends“ am Brandenburger Tor, und auch die Berliner Bevölkerung wird auf vielfältige Weise in die Veranstaltung mit einbezogen.
Der Senior des Berlin-Marathons, Horst Milde, hat sich mittlerweile in die zweite Reihe der Organisatoren zurückgezogen. An seiner Stelle ist sein Sohn Mark Milde als Renndirektor getreten. Blickt man auf das jüngste Marathon-Event im vergangenen September (25.9.2022) zurück, so braucht man sich über die Zukunft dieser Veranstaltung kaum Sorgen zu machen.
Die Veranstalter sind ideenreich und engagiert und die Marathonlaufbewegung scheint nach wie vor faszinierend und anziehend zu sein.
Statistische Zahlen des 48. BMW Berlin-Marathon 2022:
- 157 teilnehmende Nationen
- 45.527 Läufer und Läuferinnen
- 4.153 Skater und Skaterinneninnen
- 92 Handbiker und Handbikerinneninnen
- 50 Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfaherinnen
- 810 Kinder (2 – 8 J) beim „Bambini-Rennen“ (200m – 600m)
- 7.100 Jugendliche beim Mini-Marathon (4,295 km) auf der Originalstrecke
- 7.000 beim „Frühstückslauf“
Beteiligung von Frauen:
- 1981: 3 % 2022: 33%
Die Sieger und Siegerinnen beim 48. BMW Berlin-Marathon 2022:
- Eliud Kipchoge (KEN) 2:01:09 (neuer Weltrekord)
- Tigist Assefa (ETH) 2:15:37
Es war erst ihr zweiter Marathon und sie rückte dabei auf Rang drei der ewigen Bestenliste vor. Schneller als Tigist Assefa waren lediglich die aktuelle Weltrekordlerin Brigid Kosgei (Kenia/2:14:04) und die Britin Paula Radcliffe (2:15:25).
Zwölf Weltrekorde in Berlin:
- 1977 Christa Vahlensieck (Wuppertal) 2:45:48
- 1998 Ronaldo da Costa (BRA) 2:06:05
- 1999 Tegla Loroupe (KEN) 2:20:43
- 2001 Naoko Takahashi (JPN) 2:19:46
- 2003 Paul Tergat (KEN) 2:04:55
- 2007 Haile Gebrselassie (ETH) 2:04:26
- 2008 Haile Gebrselassie (ETH) 2:03:59
- 2011 Patrick Makau (KEN) 2:03:38
- 2013 Wilson Kipsang (KEN) 2:03:23
- 2014 Dennis Kimetto (KEN) 2:02:57
- 2018 Eliud Kipchoge (KEN) 2:01:39
- 2022 Eliud Kipchoge (KEN) 2:01:09
Letzte Bearbeitung: 29.9.2022
Prof. Dr. Helmut Digel in „SPORT NACHGEDACHT“
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