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12
04
2022

Univ.-Prof. Dr. Ilse Hartmann-Tews, Professorin für Soziologie und Sportsoziologie an der Deutschen Sporthochschule Köln und Leiterin des Instituts für Soziologie und Genderforschung - Foto: LSB Berlin

„Es gibt noch viele Ungleichheiten.“ – Interview mit Professorin Dr. Ilse Hartmann-Tews, Institut für Soziologie und Genderforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln, über die aktuelle Situation der Gleichberechtigung von Frauen im Sport – SPORT BERLIN

By GRR 0

Wie gleichberechtigt sind Frauen heute im Sport wirklich? Wo werden Frauen benachteiligt oder diskriminiert?

Verglichen mit der Situation von Frauen, die sich im 19./20. Jahrhundert an der Turnbewegung oder im Sport teilhaben wollten, sind Frauen heutzutage auf den ersten Blick gleichberechtigt. Durch Regularien des IOC haben sie mittlerweile zu fast allen Sportdisziplinen Zugang und ist die Zusammensetzung der Olympiateilnehner:innen in Bezug auf ihr Geschlecht nahezu ausgeglichen.

Allerdings sehen wir noch viele Ungleichheiten, beispielsweise ganz konkret, wenn es um die Zuweisung von Hallen-/Platzzeiten für das Training geht, um Zuschüsse für Trainingscamps oder Ausstattung mit Kleidung – in den allermeisten Fällen werden die Männerteams bevorzugt und selbst die leistungsstärkeren Frauenmannschaften (beispielsweise im Fußball) benachteiligt oder zugunsten der Männerteams ganz abgeschafft.

Wir sehen Unterrepräsentanz von Frauen aber auch im Bereich der Trainer:innen, ehrenamtlichen Führungskräfte etc. und flankiert wird dies dadurch, dass auch die Sportberichterstattung den Sport der Frauen nahezu ausblendet. In empirischen Untersuchungen der Tagesberichterstattung Sport der größten Zeitungen in Deutschland haben wir festgestellt, dass der Anteil der Berichte und Bilder über Sportlerinnen seit Jahrzehnten bei ca. zehn Prozent liegt – das heißt, 90 Prozent der Sportberichterstattung ist über den Sport der Männer. Bei den Olympischen Spielen sieht die Berichterstattung ausgeglichener aus – aber auch hier haben wir festgestellt, dass über Sportlerinnen nicht im gleichen Umfang berichtet wird wie über Sportler.

  • Wie stark ist Sexismus gegenüber Frauen im Sport ausgeprägt?

Wenn wir unter Sexismus eine Abwertung und Benachteiligung einer Person(engruppe) aufgrund ihres Geschlechts verstehen, dann ist er sehr stark ausgeprägt. Eine Umfrage des SWR unter Spitzensportlerinnen hat ergeben, dass gut ein Drittel von ihnen konkreten Sexismus im Sinne von Herabwürdigung ihrer Leistungen und Benachteiligungen im Sport erlebt haben.

  • Sind reine Frauenvereine eine Lösung, wenn es um Diskriminierung und Ausgrenzung von Frauen geht?

Vereine ausschließlich für Frauen sind sicher nicht die Lösung für das grundsätzliche Problem der Ungleichbehandlung im Sport. Dennoch bieten sie einen Raum, den Frauen völlig autonom gestalten können und wo die klassische hierarchische Ordnung nicht zum Zuge kommen kann. Und ein solcher Kontext kann durchaus förderlich sein für die Entwicklung von Sportbegeisterung. Wir wissen beispielsweise aus der sportbezogenen Schulforschung, dass Koedukation im Sportunterricht eher nachteilig für Mädchen ist. Im Vergleich zu Mädchen, die in einer reinen Mädchenklasse (monoedukativ) Sportunterricht haben, haben Mädchen im koedukativen Sportunterricht zusammen mit Jungen weniger Spaß an Sport, gehen mit einem unwohlen Gefühl zum Sportunterricht und erhalten auch schlechtere Note.

  • Welche Rolle spielt Mehrfachdiskriminierung im Sport, zum Beispiel bei Frauen mit Behinderung und Migrationsgeschichte?

Zu den Überschneidungen von sozialen Ungleichheitsdimensionen liegen nur wenige Studie vor. Aber in der Tat lässt sich vermuten, dass einige personenbezogene Charakteristika im Sport mit einer verstärkten – mehrfachen – Diskriminierung einhergehen.

  • Die leitenden Vorstands- und Entscheidungspositionen in den Sportvereinen sind immer noch mehrheitlich von Männern besetzt. Woran liegt das? Sollte etwas dagegen getan werden und wenn ja, was?

Aus den Gleichstellungsberichten des DOSB und auch dem aktuellen Sportentwicklungsbericht lässt sich eine deutliche Unterrepräsentanz von Frauen in Führungsgremien ablesen. In den Spitzenverbänden auf Bundeseben liegt der Anteil von Frauen in den Präsidien bei 18 Prozent und dies bedeutet angesichts eines Mitgliedschaftsanteils von 40 Prozent eine deutliche Unterrepräsentation von Frauen. Auf der Ebene der Vereine ist der Anteil von Frauen in Führungsposition höher, hier liegt er bei ca. 30 Prozent. Gleichzeitig wissen wir, dass die Vereine die Gewinnung und Bindung von ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen gerade auch in Führungspositionen als zentrales Problem beschreiben.

  • Wie können Frauen für die Übernahme von leitenden Funktionen motiviert werden, wenn sie einen Fulltime-Job und eine Familie haben?

Nun ja, Motivation der Frauen ist ja nur eine Seite der Medaille und die Strukturen der Organisation sind die wichtige andere Seite der Medaille. Motivation kann nur entstehen, wenn etwas attraktiv erscheint, wenn Wertschätzung, klare Aufgaben, Ziele und Gestaltungsmöglichkeiten mit der Übernahme eines Amtes verbunden sind. Wir wissen aus der Forschung, dass es für Frauen schwierig ist – und es ihnen schwer gemacht wird – sich in einer reinen Männerriege zu Wort zu melden und dort auch Gehör zu finden. Umgekehrt zeigt sich aber auch, dass, wenn junge Leute – egal ob Jungen oder Mädchen – schon früh in konkrete Projekte der ehrenamtlichen Mitarbeit einbezogen werden und diese Wertschätzung ihrer Mitarbeit weitergeführt wird im Rahmen der Sportjugend, es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass sich Männer und vor allem Frauen dann auch weiterhin engagieren und Führungsämter übernehmen. Übrigens zeigen jüngste Längsschnittuntersuchungen des Sportentwicklungsberichts, dass Vereine, die Frauen in der Führungsriege haben, in verschiedenen Aspekten der Vereinsführung besser aufgestellt sind als Vereine mit einer Männerriege in der Führungsspitze.

  • Ehrenamtliches Engagement – das heißt nicht nur Vorstandsarbeit. Engagieren sich Frauen eher bei ehrenamtlichen Tätigkeiten, die nicht mit einem Amt verbunden sind?

Ja, das zeigen die Beobachtungen in Vereinen deutlich

  • Auch in den Vereinen sind die Frauen in der Minderheit. In den Berliner Sportvereinen sind nur 37 Prozent der Mitglieder weiblich. Woran liegt das? Sind es die Strukturen im organisierten Sport oder gibt es keine passenden Angebote für Frauen?

Wir sehen, dass der Anteil von sportlich aktiven Mädchen und Frauen vor allem in der Altersgruppe der unter 24-Jährigen geringer ist – im höheren Alter wendet sich das Blatt, d.h. in den Altersgruppen der über 55-Jährigen sind es deutlich mehr Frauen als Männer, die sportlich aktiv sind. Dies sind die Ergebnisse aus allgemeinen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen. Man müsste in den Sportvereinen nochmal genauer hinschauen, in welchen Altersgruppen sich diese allgemeinen Partizipationsdaten nicht in der Vereinsmitgliedschaft abbilden, um genauer zu erfahren, in welchen Altersgruppen Frauen eher unterrepräsentiert sind. Insgesamt kann aber davon ausgehen, dass die Angebote, d.h. Sportarten, aber auch Form der Angebote, die Ansprache, die infrastrukturellen Rahmenbedingungen der Sportvereine für Frauen weniger attraktiv sind als für Männer. Dies lässt sich vor allem daran ablesen, dass der Anteil von Frauen in den Sportangeboten der Fitness-Studios oder der Freien Bildungsträgern deutlich größer ist als der der Männer.

  • Im Leistungssport gibt es ein ähnliches Verhältnis: In vielen Sportarten gibt es mehr Trainer als Trainerinnen – selbst für Frauen oder Frauen-Teams. Wie kann man den Trainer*innenjob für Frauen attraktiver machen?

Da sprechen Sie ein ganz markantes Problem an! Es gibt zu dieser Problematik nur wenig systematische und fundierte Forschung. Eine Studie Anfang der 20er Jahre hat hierzu aber ein klares Fazit. Zum einen werden Leistungssportlerinnen weitaus weniger von Trainer:innen und Funktionär:innen angesprochen und motiviert, diesen Weg einer Trauiner:innenausbildung einzuschlagen. Frauen geraten somit seltener in den Blick und erhalten weitaus weniger Vertrauensvorschuss für ein solche Entscheidung. Zum anderen kommen nicht nur an dieser Stelle der geschlechtsdifferenzierenden Ansprache und Motivation, sondern auch bei der Ausbildung und Rekrutierung geschlechtsbezogene Stereotype zum Tragen. Frauen wird die Position und Rolle als Trainerin weitaus weniger zugetraut, weil die klassischen Stereotype von Frau-Sein und Weiblichkeit nicht kompatibel erscheinen mit den klassischen Zuschreibungen einer Tainerrolle. Und darüber hinaus ist die Rolle als Trainer:in ja sehr oft ein Engagement mit sehr hohem Zeitaufwand, das für Frauen im Kontext der klassischen Arbeitsteilung von Familie und Beruf noch schwerer in Einklang zu bringen ist. Hier müsste sich somit strukturell etwas ändern, um diese Position attraktiver zu machen.

  • Welche ganz besonderen Bedürfnisse haben Frauen, wenn es um die Teilhabe am Sport geht? 

[? Keine Ahnung ☺] Haben Mädchen/Frauen ganz spezifische Bedürfnisse in Bezug auf Sport und Bewegung, die sich von denen der Jungen/Männer unterscheiden? Aus einer eigenen Untersuchung im Jugendbereich wissen wir, dass die Motivationsbündel für Sport von Mädchen und Jungen recht gleich sind. Es geht vor allem um Bewegungsfreude, Fitness sowie Leistung und Anerkennung – gleichermaßen für Mädchen und Jungen.

  • Wenn wir von Gleichstellung sprechen, sollte auch das Thema Chancengleichheit nicht fehlen. Ein aktuell viel diskutiertes Thema ist die Frage nach der Einteilung von Transfrauen in die Wettkampfkategorie „Frau. Haben Sie eine Idee, wie die gleichberechtigte Teilhabe von Transfrauen am Wettkampfsport und zugleich eine Chancengleichheit der Frauen untereinander einigermaßen garantiert werden könnte?

Das ist ein sehr komplexes Thema! Zuerst wäre ja zu klären, was macht eine Frau zur Frau und einen Mann zum Mann? Für die Medizin geht es dabei vor allem um die hormonelle Steuerung, und hier wird – beispielsweise vom Internationalen Leichtathletikverband (IAAF) – dem Testosteronlevel aktuell eine besondere Rolle zugesprochen. Allerdings ist diese Fokussierung auf den Testosteronspiegel als singulärer Wert für eine eindeutige Geschlechtszuordnung unter Molekularbiologen auch sehr umstritten. In der Soziologie und Genderforschung stehen nicht die biologische Voraussetzung bzw. das bei Geburt zugewiesene Geschlecht im Mittelpunkt, sondern die Frage nach der Geschlechtsidentität, also das jeweilige individuelle Gefühl oder die Wahrnehmung von sich selbst als geschlechtliche Person. Darüber hinaus ist es im Alltag auch spannend, durch welche Marker eine Person als Frau oder Mann identifiziert oder (an-) erkannt wird – ist es die äußere Erscheinung, die Stimme, die Körpersprache?

Es gab immer wieder Fälle von Athletinnen, denen aufgrund ihrer herausragenden Leistungen das Frausein abgesprochen wurde und die dann wirklich abenteuerliche „Geschlechtsverifikation“sverfahren durchlaufen mussten. In den letzten Jahren wurde der Fall von 800-m-Läuferin Caster Semenya öffentlich diskutiert, die als Mädchen großgeworden ist und sich selbst klar als Frau sieht aber intersexuelle Anlagen hat. Dieser Fall ist zwar nochmal anders gelagert als Transidentität, hat aber die Diskussionen intensiviert, wie man mit geschlechtlicher Diversität im Sport umgehen kann und soll.

Globale Richtlinien für Transgender-Sportler*innen zu entwickeln – verbunden mit ihrer Zuordnung zu Frauen- oder Männerwettbewerben – ist eine schwierige Aufgabe. Wenn man leistungsbestimmende Parameter differenzieren will, müssten die unterschiedlich sein je nach Sportart und Disziplin – das ist auch die Linie des internationalen Sportgerichtshofs CAS. Aber wieviel Sinn macht das? Was ist natürliches Talent (beispielsweise Körpergröße, Hebelverhältnisse) und als solches akzeptiert und welcher natürliche  Leistungsvorteil wird nicht mehr akzeptiert und sollte reglementiert werden? Es gibt mittlerweile einzelne Verbände, die stärker auf die Geschlechtsidentität Rücksicht nehmen und den umstrittenen Testosteronspiegel außen vorlassen, beispielsweise der Berliner Fußballverband oder auch die National Collegiate Athletic Association (NCAA).

  • Prävention sexueller Gewalt und Kinderschutz ist ein wichtiges Thema im Sport. Der Landessportbund Berlin vergibt seit 2020 das Kinderschutzsiegel an Vereine und Verbände. Eine von mehreren Voraussetzungen ist die Benennung einer oder eines Kinderschutzbeauftragten. Oft ist die Position von Frauen besetzt. Warum ist das nicht nur für Frauen eine wichtige Aufgabe?

Der Kinderschutz ist eine elementare Aufgabe für den Sport und ihre Basis, die Sportvereine. Und es ist vorbildhaft, dass der LSB diesen Weg des Kinderschutzsiegels geht. Wir wissen aus unserem Forschungsprojekt Safe Sport, dass gut ein Drittel aller Kaderathlet:innen in Deutschland in ihrer Leistungssportentwicklung Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben und darunter sind überproportional viele Frauen – hier liegt die Prävalenz bei 48 Prozent. Die Prävention und eine Kultur der Achtsamkeit und des Hinsehens ist aber eine Aufgabe für alle!

  • Zum Schluss die Frage: Wie müsste eine gleichberechtigte Sportwelt aussehen?

Hier würde ich mich der Gruppe von equaletics ‚Für mehr Chancengleichheit im Sport‘ anschließen, die am 1. April 2021 eine Sammlung von schönen Utopien veröffentlicht haben: bit.ly/Kampf-Kitsch

Die Fragen stellten Angela Baufeld und Benjamin Csonka

Quelle: SPORT BERLIN – 02/2022

  • Utopiemagazin:

So stellt sich die Gruppe von equaletics auf ihrer Homepage vor: „Seit jeher haben Frauen* im Sport mit Herausforderungen und Benachteiligungen zu kämpfen. Lange Zeit gab es dafür keine Öffentlichkeit, daran mangelt es noch heute. Wir finden: Sport ist etwas Positives und sollte allen zugänglich sein. Dafür müssen noch viele Barrieren abgebaut werden. Daher setzen wir uns für mehr Chancengerechtigkeit im Sport ein. Sei es bei der Medienberichterstattung, der finanziellen Förderung oder Bereitstellung von Ressourcen und Infrastruktur. Veränderung kommt nicht über Nacht und schon gar nicht von alleine. Wir wollen sicher gehen, dass sie kommt.“

Nach dem Motto: „Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt!“ hat die Gruppe im letzten Jahr Organisationen, Vereine, Personen und Unternehmen zusammengetrommelt, um die erste Ausgabe des Utopiemagazins „(Gerechtigkeits) Kampf und Kitsch“ herauszubringen. Die Aufgabe: Wenn ihr euch eine Schlagzeile für den Sport aussuchen könntet, welche wäre das?

Und welchen Beitrag könnt ihr dazu leisten? Hier geht’s zum Utopiemagazin: bit.ly/Kampf-Kitsch

 

author: GRR