Die Gruppe - Foto: Erdmute Nieke
Erinnern! Impressionen vom Erinnerungslauf am 9. November 2024 von Dr. Erdmute Nieke
86 Jahre nach der Reichspogromnacht trafen sich morgens um neun Uhr zehn Läufer:innen und drei Radfahrerinnen am Rande des Bayerischen Viertels in Berlin.
Eine Rose am Denkmal für die Synagoge in der Münchner Straße – Foto: privat
Nach zweieinhalb Stunden hat die Gruppe eine Strecke von neun Kilometern absolviert und dabei 21 Erinnerungspausen eingelegt.
Das Bayerische Viertel war am Anfang des 20. Jahrhunderts eine der besten Adressen von Berlin. Salomon Haberland gründete mit seinem Sohn Georg die Berlinische Bodengesellschaft und plante und erbaute das Viertel. Seine drei Enkel:innen wurden von den Nationalsozialisten verfolgt. Sein ältester Enkel Kurt Haberland wurde 1942 im KZ Mauthausen ermordet.
Eine Rose für Gertrud Kolmar – Foto: privat
Albert Einstein war wohl der berühmteste Bewohner des Bayerischen Viertels – bis 1932.
Neben Albert trafen wir 18 weitere Menschen, die da lernten, lebten und arbeiteten: Musiker:innen wie Claire Waldorf und Coco Schumann, die Malerin Lotte Laserstein, die Schriftsteller Egon Erwin Kisch, Erich Kästner und Walter Benjamin, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der Psychoanalytiker Erich Fromm, der Regisseur Billy Wilder, die Lyrikerin Gertrud Kolmar, die Fotografin Gisèle Freund, die Journalistin Inge Deutschkron oder die Schulleiterin Luise Zickel.
Albert Einstein wohnte hier – Foto: privat
Sie alle mussten nach 1933 untertauchen und emigrieren oder sie wurden von Nationalsozialisten drangsaliert und ermordet. So ist von der Schulleiterin Luise Zickel ein Brief erhalten, in dem sie ihrer Cousine in die USA schreibt: „Ich halte mich für zu alt, um noch einmal ein Leben in einem fremden Land anzufangen.“ Am 25. Januar 1942 wurde sie – 64-jährig – von Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in einem Viehwaggon nach Riga deportiert und sofort nach der Ankunft am 30. Januar 1942 ermordet.
Zwei ungewöhnliche Erinnerungsorte waren gute Quellen bei der Recherche für diesen Erinnerungslauf. Die Dauerausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg und das Cafe Haberland am Bayerischen Platz lieferten unglaublich viele und spannende Informationen über die Menschen und das Leben in diesem besonderen Viertel. Beide Orte dokumentieren auch ausführlich die Verfolgung der jüdischen Menschen zwischen 1933 und 1945.
Unterwegs lasen wir auch viele der 80 Tafeln des Kunstprojektes „Orte des Erinnerns“, die seit 1993 im Bayerischen Viertel an die systematische Entrechtung der jüdischen Mitmenschen erinnern. Auf den Tafeln werden die Maßnahmen, Verordnungen und Gesetze von 1933 bis 1945 zitiert, die Stück für Stück die Isolierung, Ausgrenzung und Ermordung der jüdischen Mitmenschen ermöglichten.
Ein Gruß für Margot Friedländer zum 103. Geburtstag – Foto: privat
An den zwei ehemaligen Synagogen – in der Münchner und in der Prinzregentenstraße – erinnerten wir mit Rosen an die Zerstörung dieser Orte vor 86 Jahren.
Eine ganz besondere Laufpause war die Übergabe einer roten Rose und eines nachträglichen Grußes an der Rezeption einer Seniorenresidenz. Herzlichen Glückwunsch Margot Friedländer zum 103. Geburtstag! Sie konnte ihn am 5. November 2024 feiern.
Nach den intensiven neun Kilometern hatten wir an einem warmen Ort noch Gelegenheit bei Tee und Knabbereien das Gehörte und Gesehene nachwirken zu lassen und über gesellschaftliche Entwicklungen der Gegenwart zu diskutieren. Für alle Teilnehmer:innen gab es ein Erinnerungssteinchen, ein Albert-Einstein-Bonbon (Albert hat am Bayerischen Platz gern Bonbons an Kinder verschenkt) und ein kleines Erinnerungsheft mit den 21 Stationen des Laufes.
Eine Rose für Luise Zickel vor ihrer Schule – Foto: privat
Bereits zum vierten Mal fand ein Erinnerungslauf zum 9. November 1938 statt. Nach Läufen durch Berlin-Mitte, Charlottenburg und Spandau nun das Bayerische Viertel.
Margot Friedländer verdeutlicht uns, wie wichtig das Erinnern an dieses Damals ist:
„Ich weiß genau, wie es damals angefangen hat. Ich bin entsetzt, dass ich das heute erleben muss. Ich sage denen, was ich immer gesagt habe: Seid Menschen. Menschen tun so etwas nicht.
Wir sind gleich. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur Menschenblut.“
Margot Friedländer – Foto: Horst Milde
Wir laufen weiter – damit diese Menschen NICHT vergessen werden und sich diese Geschichte NICHT wiederholt!
Dr. Erdmute Nieke
Nächster Erinnerungslauf: Frauentag 2025 – Auf den Spuren von Gabriele Tergit (1894-1982) in Berlin