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2013

2012 London Olympic Games London, England Aug03-12 2012 Photo: Victah Sailer@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET

Er funktioniert – 2012 hat die letzte Gewissheit gebracht, dass Usain Bolt punktgenau jene Wunder abrufen kann, nach welchen sich die Olympia-Wirtschaft sehnt – THOMAS HAHN in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Es gab in diesem Jahr zwei Dokumentarfilme aus dem jamaikanischen Heldenkabinett. „Marley“ von Kevin MacDonald zeichnete das kurze Leben des Reggae-Pioniers Bob Marley nach. Es war das nüchterne Porträt eines Weltkünstlers, der seine Musik in den Dienst höherer Werte stellte.

In 145 Minuten erschien Marley als Person mit Brüchen und Botschaften. Als Kiffer, Rastafari, Ehebrecher, Fußballfreund, Friedensstifter, Kommerzverweigerer, Attentatsopfer, Krebspatient. „Usain Bolt. The Movie“ von Gael Leiblang befasste sich mit der Karriere des Sprint-Weltrekordlers Usain Bolt. Es war das emotionale Porträt eines Weltsportlers, der seine Schnelligkeit in den Dienst einer Industrie gestellt hat.

In 85 Minuten erschien Bolt als Wundermensch und Lebemann. Als keuchender Trainierer, Jet-Set-Athlet, Play-Station-Spieler, Fußballfreund, Kommerzdiener, Gewinner, Fehlstarter, Gelegenheitsphilosoph. Es waren zwei sehr unterschiedliche Porträts. „Marley“ war zeitlos, „Usain Bolt: The Movie“ war die perfekte Hinführung auf Olympia in London.

Schwer zu sagen, ob es irgendwann auch mal so eine schonungslose, authentische Filmdokumentation über Usain Bolt geben wird, wie Kevin MacDonald sie über den 1981 verstorbenen Bob Marley gemacht hat. Interessant wäre so ein Werk jedenfalls, denn auch wenn Usain Bolt, 26, einer der meistabgebildeten Sportler der Welt ist, wenn Sportwissenschaftler und Biomechaniker seinen Laufstil erforscht haben – wirklich viel weiß man nicht über die Hintergründe des Boltschen Erfolgs.

Nur soviel ist sicher: Bolt funktioniert. 2012 hat die letzte Gewissheit gebracht, dass Bolt unter Coach Glen Mills punktgenau jene Wunderdinge abrufen kann, nach denen sich die Leichtathletik-Wirtschaftswelt sehnt. In London firmierte Bolt als olympischer Posterboy, alles erstrahlte im Lichte des großen Sprinters – dabei war ein anderer vorher schneller gewesen, Bolts lispelnder Landsmann und Trainingspartner Yohan Blake. Dann trat Bolt auf die Bahn des Olympiastadions und riss einen Sieg nach dem anderen runter: Gold über 100 Meter in 9,63 Sekunden. Gold über 200 Meter in 19,32 Sekunden. Gold mit der 4×100-Meter-Staffel in 36,84 Sekunden.

 Zugegeben, Usain Bolt hat in London ein bisschen weniger überlegen gewirkt als in den Jahren zuvor. Er hat auch nicht das gleiche Kunststück geschafft wie bei Olympia 2008 in Peking und bei der WM 2009 in Berlin, als er seine drei Siege jeweils mit drei Weltrekorden garnierte. In London bedeuteten nur die 36,84 mit der Staffel Weltrekord. Aber unter britischen Wolken war es halt etwas zu kalt, um schneller unterwegs zu sein als 9,58 über 100 und 19,19 über 200 Meter.

Weit weg davon war er ohnehin nicht. Die paar fehlenden Hundertstel konnten nicht davon ablenken, dass Bolt wieder mal unwirklich schnell gerannt war. Er selbst würdigte diesen Umstand, indem er sich nach seinem 200-Meter-Sieg mit einer Art Ehrendoktorwürde für Olympioniken schmückte. „Ich bin jetzt eine lebende Legende“, sagte er.

  Er kann sich nennen, wie er will: Legende, Wunderläufer, überirdisch, wie auch immer – Tatsache ist, dass Bolt längst nicht mehr nur irgendein Olympiasieger ist. Er ist aufgestiegen in einen sehr kleinen Kreis von Athleten, zu dem auch Lance Armstrong mal gehörte: Er ist ein Besonderer unter den Besonderen. So etwas wie eine menschliche Ikone, das Ebenbild des modernen Leichtathleten, der leibhaftige Maßstab für menschliche Geschwindigkeit, eine Weltmarke.

Man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass ihn irgendjemand nicht kennt, so sehr ist sein kantiges Gesicht und seine Hünen-Gestalt eingegangen in die Bilderwelt der Mediengesellschaft. Der kraftvollen Eleganz seines Laufstils kann sich kaum einer entziehen.

  Dazu kommt sein Witz, seine Lässigkeit, sein Talent als Mime. 2008 haben seine Kritiker noch die Nase gerümpft übers Gestentheater an der Startlinie, über seine verdächtige Leichtigkeit und über seinen Jubelreigen. 2009 zuckten sie schon ein bisschen mit den Mundwinkeln, als Bolt seine Freundschaft mit dem Berliner WM-Maskottchen Berlino feierte. 2012 muss man selbst als hartnäckiger Nörgler einsehen, dass Bolt dem Leichtathletik-Publikum etwas gibt, das andere nicht im Repertoire haben: Show, Spaß, gute Laune.

Im Mai stellte man ihn in Ostrau kurz nach einem Überseeflug auf die Bahn – da war die Aura etwas runtergedimmt, weil Bolt nur 10,04 Sekunden rannte. Sechs Tage später beim Diamond-League-Meeting in Rom war er wieder ausgeschlafen, rannte 9,76 und bespaßte das Publikum mit ausführlichem Körpertheater. 45 000 Zuschauer waren aus dem Häuschen. Und in London konnte er es sich sogar leisten, nachts um drei nach dem 100-Meter-Sieg ein Foto von sich mit drei schwedischen Handballerinnen zu twittern, nebst der Zeile: „A gaza (in Kingston) we say hmmm mmm.“ Die Leute lagen ihm zu Füßen.

  So weit der Stand der Bolt-Geschichte im Jahr 2012. Der Weltrekordler ist gut durchgekommen bisher, kleinere Verletzungsgeschichten hat er überstanden, seine Bestleistungen kommen dann, wenn er sie braucht. Der Leichtathletik hat er neuen Glanz verliehen, der olympische Kernsport steht und fällt mit seiner Anwesenheit. Er verdient sehr viel Geld. Seine Biografen fragen nicht zu streng nach. Und im Heldenkabinett seiner Heimat fühlt er sich gut aufgehoben.

Bei Olympia fragte ihn jemand: Wer ist der größte Jamaikaner, Bolt oder Marley? Usain Bolt antwortete: „Ich würde nicht sagen, dass ich größer bin. Wir spielen die gleiche Rolle für unser Land.“

 

THOMAS HAHN in der Süddeutschen Zeitung, Sonnabend, dem 29.12.2012

 

author: GRR

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