Wenigstens die Trophäe von Lückenkemper sollte allerdings einen Goldrand bekommen. 9,89 Sekunden für ihren Kurvenlauf- 2017 World Championships-London London, UK August 4-13, 2017 Photo: Victah Sailer
Endlich wieder fliegen Erstmals seit vier Jahren bleibt Gina Lückenkemper in Berlin unter elf Sekunden. Doch international werden vor der WM noch ganz andere Zeiten gelaufen. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Gina ist zurück. Die schnellste Sprinterin Deutschlands durchbricht endlich wieder die Schallmauer von elf Sekunden, doch der Knall blieb aus. „Fühlt sich an wie fliegen“, beschrieb Gina Lückenkemper ihren scheinbar mühelosen Lauf von 10,99 Sekunden, mit dem sie am Samstagabend im Olympiastadion von Berlin deutsche Meisterin wurde. Das Gefühl verschwand schnell: „Ich spüre meine Beine jetzt ganz schön.“
Herausforderinnen fehlten der Überfliegerin auf der Sprintstrecke in Berlin. Titelverteidigerin Alexandra Burghardt, die zwischenzeitlich eine olympische Silbermedaille im Bob gewann, meldete sich krank, nachdem sie beim Aufwärmen in sich hineingehorcht hatte. Tatjana Pinto zog zurück, nachdem sie im Vorlauf 11,26 Sekunden für die hundert Meter gebraucht hatte und im Halbfinale 11,39. Blieb nur, die elf Sekunden zu attackieren. Und wirklich: Gina Lückenkemper war eher im Ziel, als die Zeit abgelaufen war – zum ersten Mal seit vier Jahren, zum vierten Mal seit der Weltmeisterschaft von London 2017 und der Europameisterschaft von Berlin 2018, bei der sie Zweite wurde. Drei ihrer vier Bestleistungen hat sie in Berlin aufgestellt.
„Ich bin definitiv stolz auf diese Leistung“, sagte sie: „Ich bin stolz darauf, diese Zeit unter der Prämisse der Abläufe heute erreicht zu haben.“ Weil der Wettkampf wegen eines drohenden Gewitters unterbrochen worden war, blieb zwischen Halbfinale und Endlauf keine Zeit zur Erholung und zur Vorbereitung. Wer sich darüber aufregte, das weiß eine erfahrene Athletin wie Gina Lückenkemper, vergeudet Energie. Noch dazu hatte sie einen besonderen Auftrag. „Ein guter Tag, um sub-11 zu laufen“, hatte ihr Trainer Lance Brauman aus den Vereinigten Staaten aufs Handy gefunkt. Im Ziel brach die 25-Jährige in Tränen aus.
Zu lange hatten ein verschobener Wirbel, Muskelverletzungen und die Einschränkungen der Corona-Pandemie, insbesondere das Einreiseverbot in die Vereinigten Staaten, die Sprinterin daran gehindert zu zeigen, was sie kann. Eigentlich trainiere Gina erst seit diesem Jahr mit, findet Brauman. Gina Lückenkemper wollte in Berlin nicht von einem Comeback sprechen. „Ich bin nie weg gewesen“, beharrte sie: „Ich hatte ein bisschen Pech, aber ich war immer da.“ Unter elf Sekunden zu laufen sei etwas Besonderes, und weil es etwas Besonderes sei, kämen da auch mal Tränen, sagte sie. Von Erleichterung könne keine Rede sein.
„Wenn man von Weltmeistern und Olympiasiegern und Weltrekordlern umgeben ist, will man sich keine Blöße geben“, sagt Gina Lückenkemper über ihre Rolle in der Trainingsgruppe: „Zumindest ist das mein Anspruch.“
Die amerikanische Sprint-Weltmeisterin und Olympiasiegerin Tori Bowie gehört dazu, die zweimalige Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo von den Bahamas, der amerikanische Sprint-Weltmeister Noah Lyles und der ebenfalls um Anschluss an seine einstigen Leistungen als Olympiasieger, Weltmeister und Weltrekordhalter über 400 Meter ringende Wayde van Niekerk aus Südafrika. „Auch wenn andere das kritisiert haben“, sagte sie: „Ich war mir die ganze Zeit sicher: Das, was ich da mache, ist für mich genau richtig. Ich muss halt nur mal gesund bleiben.“ Sie sei in Florida glücklich und habe in Clairmont inzwischen eine Wohnung. „Wenn man die ganze Zeit von Vollprofis umgeben ist, ist das eine ganz besondere Atmosphäre“, sagt sie: „Jedes Training ist eine Herausforderung.“
Bei Brauman in der „Pure Athletics Group“ zu trainieren hat Gina Lückenkemper nicht nur wieder in Bestform gebracht. Sie war auch auf Sprints ohne Pause vorbereitet. Brauman bringe sie täglich an ihre Grenzen, erzählt Lückenkemper. An sogenannten „Knockout Days“ sprinte sie so oft und dicht nacheinander, dass sie sich übergeben müsste – wenn denn Zeit dafür wäre. Keine Pause bei der deutschen Meisterschaft? Davon geht eine Gina Lückenkemper nicht k. o.
Gesundheit und Leistungsfähigkeit der westfälischen Sprinterin im Trikot des SCC Berlin lassen einerseits gute Leistungen bei der Weltmeisterschaft in Eugene/Oregon und bei der Europameisterschaft in München erwarten. Gerade die Staffel soll wieder um eine Medaille kämpfen: „Ich denke, da kriegen wir eine ganz gute Truppe auf die Reihe.“ Andererseits sind das deutsche und das internationale Niveau doch sehr unterschiedlich. „Mir ist die Kinnlade runtergefallen“, kommentierte Gina Lückenkemper die Ergebnisse von den Meisterschaften der Läuferinnen, die sie bei der WM herausfordern will.
Bei der jamaikanischen Meisterschaft gewann Shericka Jackson ihren ersten Titel über 100 Meter – in 10,77 Sekunden; bisher galt sie als 400-Meter-Läuferin. Schneller als sie war in diesem Jahr lediglich die dreimalige Olympiasiegerin Shelly-Ann Fraser-Pryce mit 10,67. Die zweimalige Doppel-Olympiasiegerin Elaine Thompson-Herah wurde Dritte in 10,89. Die Schweizerin Mujinga Kambundji, Hallen-Weltmeisterin über 60 Meter, gewann in Zürich den Titel im Sprint in 10,89 Sekunden. Im Meisterschafts-Finale der Vereinigten Staaten unterboten sechs Frauen 10,90 Sekunden und vier 10,80. Bei Rückenwind von 2,9 Metern pro Sekunde siegte Melissa Jefferson in schier unglaublichen 10,69 Sekunden vor Aleia Hobbs (10,72) und Twanisha Terry (10,74). Die Vierte, Tamari Davis, war auf der neuen WM-Bahn von Eugene/Oregon in 10,78 22 Hundertstelsekunden schneller als Gina Lückenkemper auf der blauen Bahn des Olympiastadions von Berlin. In Eugene liegt derselbe Belag wie im Olympiastadion von Tokio 2021. Er enthält Luftkammern und unterstützt mit der dadurch erreichten Federung den Abdruck von Läuferinnen und Läufern.
Wie absurd schnell es zugeht in der Welt des Laufens zeigt die Amerikanerin Sydney McLaughlin. Bei den Trials in Eugene unterbot sie über 400 Meter Hürden den Weltrekord, den sie bei ihrem Olympiasieg von Tokio im vergangenen Jahr aufgestellt hatte, um fünf Hundertstelsekunden. Nach 51,41 Sekunden war sie im Ziel. Zum Vergleich: Bei der deutschen Meisterschaft in Berlin wäre sie im Rennen der Männer mit dieser Zeit Zweite geworden hinter Michael Adolf, der am Sonntag in 51,25 Sekunden siegte. Bei den Frauen siegte in Berlin auf der Stadionrunde Corinna Schwab in 51,61 – zwei Zehntelsekunden langsamer als McLaughlin, allerdings über 400 Meter flach, ohne die zehn Hürden. Im Halbfinale war sie 50,91 gelaufen.
„Es wird schnell“, prophezeit Gina Lückenkemper für die Weltmeisterschaft: „Die anderen haben auch hart gearbeitet. Das wird, glaube ich, gut.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 26. Juni 2022