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06
2012

2011 IAAF World Outdoor Championships Daegu, South Korea August 27-September 5, 2011 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET

EM Helsinki – Die Weiten der anderen – Speerwerferin Christina Obergföll nimmt den nächsten Anlauf zu ihrem ersten Titelgewinn – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Helsinki – Ein weiterer Tag in der Arena zwischen Gelassenheit und Druck, und Christina Obergföll zeigt wieder diese Miene, die sagt: Alles ist gut. Dabei war bei ihrem ersten EM-Einsatz in Helsinki am kühlen Mittwoch eigentlich nur gut, dass sie sich locker für das Speerwurf-Finale am Freitag qualifiziert hat, genauso wie ihre deutschen Kader-Kolleginnen Katharina Molitor und Linda Stahl.

Ihre Weite war eher mittelprächtig. 59,49 Meter vor halbvollen Tribünen. „So ist die Qualifikation eben“, sagt Christina Obergföll, „nicht weiter tragisch.“ Sie weiß, dass sie mehr drauf hat, und dann redet sie noch kurz über Helsinki, den Schauplatz der EM und ihren ersten großen Erfolg, den sie hier 2005 hatte. Sie erinnert sich, natürlich, sie spürt hier was. Und? Schulterzucken. Christina Obergföll klingt eher ungerührt, als sie sagt: „Das ist eine Erinnerung, die ich hoffentlich am Freitag nutzen kann.“

Das Olympiastadion von Helsinki ist ein besonderer Ort für die Speerwerferin Christina Obergföll, 30. Hier ist sie vor sieben Jahren bei der WM zu der Obergföll geworden, die sie heute ist.
Ein Wurf hat ihr damals gereicht, um sich von einer Offenburger Mitwerferin in eine Medaillengewinnerin zu verwandeln, und ihre 70,03 Meter platzten damals so unvermutet ins Einerlei eines ziemlich gewöhnlichen WM-Sonntags, dass sie die internationale Leichtathletik-Gemeinde richtig aufschreckte damit, inklusive ihren Trainer Werner Daniels und die damals eigentlich unangefochtene deutsche Rivalin Steffi Nerius.

Es hatte davor einen Weltrekord durch Osleidys Menendez gegeben (71,70 Metern), den die Kubanerin aber eher beiläufig feierte. Dann steckte plötzlich dieser andere Speer weit im Feld, und im Abwurfraum zeigte die blonde Deutsche einen Ausbruch von Freude mit Rennen und Sich-Hinwerfen, wie man ihn selten sieht.

Seit diesem versilberten Europarekord von 2005 ist viel passiert. Christina Obergföll hat ihre Bestlesitung auf 70,20 Meter gesteigert (2007), hat eine weitere WM-Silbermedaille gewonnen (2007 in Osaka), dazu EM-Silber (2010 in Barcelona) und die einzige deutsche Leichtathletik-Medaille bei Olympia 2008 in Peking (Bronze).

Vor allem aber ist sie mittlerweile ziemlich oft selbst in der Situation gewesen, in der sich seinerzeit Steffi Nerius als damalige deutsche Nummer eins befand. Immer wieder hatte Christina Obergföll höchste Erwartungen, immer wieder überrumpelten sie die anderen.

Erst im vergangenen Jahr wieder bei der WM in Daegu, als Christina Obergföll nach einer fast perfekten Saison erleben musste, wie die Konkurrenz sich plötzlich auf fast unwirkliche Art steigerte, die russische Olympia-Zweite Maria Abakumowa 71,99 Meter warf, die tschechische Olympiasiegerin Barbora Spotakowa 71,58, und wie sie selbst aus den Medaillenrängen fiel.

Seither arbeitet Christina Obergföll regelmäßig mit dem Heidelberger Sportpsychologie-Professor Hans Eberspächer zusammen, und nun läuft also der nächste Versuch, dieses Helsinki-Gefühl von 2005 zurückzuholen.

Ob‘s gelingt in diesem Olympiajahr? Bei der EM scheint die Gelegenheit günstig, den internationalen Titel zu holen, der ihr fehlt. Allerdings ist die EM von Helsinki eben nur die kleine EM vor den Spielen, die der Verband EAA aus PR-Gründen eingestreut hat. Spotakova lässt sie aus, Abakumowa auch. Nach der Meldeliste ist Christina Obergföll so sehr Favoritin, dass sie im Finale fast nur verlieren kann.

Und auf Olympia blickt sie mit einer seltsamen Mischung aus Zuversicht und gedämpfter Hoffnung. In London werden wieder alle da sein. Spotakova. Abakumowa. Die Weltjahresbeste Sunette Viljoen aus Südafrika (69,35 m). Und sie werden alle wieder wie die Wilden werfen, wilder möglicherweise, als Christina Obergföll es tun kann. „Ich mache mir überhaupt keine Illusionen, dass die Mädels zum Höhepunkt nur 66 Meter werfen“, sagt sie.

„Sind das Maschinen?“

Es ist etwas seltsam gelaufen in ihrer Karriere. Sie hat sich etabliert als eine der besten deutschen Leichtathletinnen, sie ist zufrieden, und doch fühlt sie sich im entscheidenden Moment oft abgehängt. Vor allem das vergangene Jahr fand sie verwirrend: Wie sie erst das Niveau bei den Meetings mitbestimmte. Und wie die Rivalinnen dann bei der WM plötzlich davonzogen. „Das sind ja auch Menschen“, ruft Christina Obergföll. „Oder sind das Maschinen? Wieso geht das bei denen immer. Wieso bei mir nicht? Ich hab manchmal das Gefühl, bei denen klappt das so auf Knopfdruck.“

Sie spürt eine kleine Ohnmacht in sich, weil gut zu werfen manchmal einfach nicht reichen will für den Erfolg. Werferin zu sein, heißt auch, der Stärke der anderen ausgeliefert zu sein, und das ist nicht ganz einfach hinzunehmen für eine emotionale Frau wie Christina Obergföll. „Je entspannter man es betrachtet über die vielen Jahre, umso leichter wird es“, sagt ihr Trainer Werner Daniels, „wir müssen uns damit abfinden, dass wir zwei Frauen im Speerwerfen haben, die Weltrekordniveau haben.“ Christina Obergföll arbeitet daran.

„Man muss sich auf sich selbst konzentrieren“, sagt sie und hofft weiter darauf, dass sie irgendwann wieder einen Tag erlebt wie damals, 2005, in Helsinki.

 

Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Mittwoch, dem 27.Juni 2012

author: GRR

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