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29
07
2015

Berliner Halbmarathon 2015: Gestartet mit den Rollis befindet sich Regina Vollbrecht mit ihrem Guide Ralf Milke (ganz r.) nach fünf Kilometern an der Seite von Arne Gabius (lks. von ihr) mitten in der Weltklasse © Linda Michalk

Eins, zwei, drei – wer sieht Regina Vollbrecht? Ralf Milke berichtet

By GRR 0

Erinnert sich noch jemand an den 7. August 1983? Ok, ein Stichwort: Grete Waitz. Richtig! An diesem Tag wurde in Helsinki der erste Weltmeisterschafts-Marathon der Frauen ausgetragen.

Erinnert sich auch jemand an den 26. April 2015? Hm? Stichwort Regina Vollbrecht?

Der Weg in die Geschichtsbücher ist noch weit, aber das Datum hat es in sich. An diesem Tag wurde in London vor dem Feld des London-Marathons und auf derselben Strecke bei der Marathon-WM des Behindertensports die erste Weltmeisterschaft für die blinden und sehbehinderten Läuferinnen ausgetragen.

Für Deutschland am Start war die blinde Weltrekordhalterin Regina Vollbrecht (3:15:49 in Frankfurt 2010). Ihre Zeit von 3:26:18 entsprach nicht ganz ihren eigenen Erwartungen, die durch gute Trainingsergebnisse begründet eher in Richtung 3:20 gingen. Als 7. Im Feld zwischen sehbehinderten Läuferinnen war sie in London allerdings die schnellste blinde Läuferin und führt auch die Weltrangliste 2015 mit mehr als einer Viertelstunde Vorsprung an.

Regina Vollbrecht ist als Frühgeborene durch eine medizinische Komplikation seit Beginn ihres Lebens ohne Sehvermögen aufgewachsen. Geboren in eine kleinbäuerliche Familie im ländlichen Mecklenburg bekam sie seit DDR-Zeiten eine hervorragende Ausbildung an der Brandenburgischen Schule für Blinde und Sehbehinderte in Königswusterhausen bei Berlin.

Die studierte Sozialarbeiterin hat gelernt, auf ihre Stärken zu vertrauen und sich gegen Widerstände und gegenüber Ignoranz durchzusetzen. Und allmählich folgt die Laufwelt ihr nach. Es ist auch ihr und ihren Laufbegleitern zu verdanken, dass der Langstreckenlauf der blinden Frauen nach vielen Jahren endlich die verdiente Aufmerksamkeit bekommt.

Noch 2005 hatte Regina sich beim BERLIN-MARATHON vergeblich um einen Start vor dem Hauptfeld – analog den Rollis – bemüht, nachdem sie es geschafft hatte, eine Gruppe von über 10 blinden Läuferinnen und Läufern plus Guides gemeinsam an den Start zu bringen.

Im letzten Jahr drehte sich der Wind mit einem mal. Es war eine einsame und spontane Entscheidung des Startlinien-Koordinators Franz Feddema, Regina und ihren Guide bei der 5×5-km-Staffel im Berliner Tiergarten eine Minute vor dem Feld starten zu lassen.

Das Publikum, die meisten selbst Läufer in Staffelmannschaften, war begeistert. Mark Milde übernahm das Modell für den Berliner Halbmarathon. Bei mehreren Läufen durfte Regina inzwischen den Start-Rangeleien entgehen, die sonst immer unvermeidlich waren. Damit liegt Berlin ganz im Zeitgeist.

Regina Vollbrecht und Ralf Milke beim Berliner Halbmarathon kurz nach dem Start – Foto: Horst Milde

Der ersten Marathon-WM waren in London schon 2013 und 2014 Weltcups des IPC (International Paralympic Committee) vorangegangen, und die vorbildgebenden Veranstalter haben den Internet-Auftritt des London-Marathons 2016 nicht etwa mit Mo Farah, sondern mit dem Bild der viertplatzierten sehbehinderten Läuferin 2015 Maria del Carmen Paredes Rodriguez und ihrem Guide unterlegt.

Regina Vollbrecht mit ihrem Guide Ralf Milke in London – Foto: privat

Regina Vollbrecht trainiert wie viele andere ambitionierten Marathonis auch:

Dauerlaufkilometer, wettkampfspezifische Ausdauer, Unterdistanzgeschwindigkeit. Die vielen anderen Marathonis schätzen an ihrem Sport seine Einfachheit: Schuhe an und los! Hier sieht es für Regina ganz anders aus. Keinen einzigen Laufschritt kann sie ohne Guide an ihrer Seite machen.

Die Königsdisziplin vor dem Laufen ist deshalb die Organisation.

Stets muss sie sich also neben ihrer Vollzeit-Arbeitstätigkeit Trainings-Guides organisieren, die ebenfalls neben ihrer Arbeit und ihren privaten Verpflichtungen mit ihr trainieren können. Laufen & Organisieren ist für sie ein permanenter Duathlon. Da ist hilfreich, dass sie über den Triathlon zum Laufsport gekommen ist.

In der Trainingsgruppe von Pro Sport 24 Berlin hat Regina inzwischen einige Trainingsguides gefunden, aber muss ständig auf der Suche bleiben. Sobald mal einer der Begleiter für intensive Einheiten ausfällt, ist sofort ihr Training in Gefahr.

100-km-Lauf in Kienbaum

Regina Vollbrecht und Ralf Milke in Kienbaum – Foto: privat

Seit Ende 2010 ist Ralf Milke von Pro Sport ihr bevorzugter Guide. Bei der Deutschen Meisterschaft im 100-km-Straßenlauf in Kienbaum 2013 liefen sie gemeinsam die Strecke in 9:47:02, für beide der erste 100-km-Lauf. Für Regina war dies gleichzeitig der Deutsche Meistertitel in der AK W35. Noch vor dem Weitspringer Markus Rehm mit seinem fragwürdigen Sprungfuß ist Regina damit die erste Schwerbehinderte, die einen nationalen Titel des DLV gewonnen hat. An den Medien ging das vorbei.

Für 2016 hat das IPC reagiert: In Rio bei den Paralympics wird es zum ersten Mal den Lauf der sehbehinderten und blinden Läuferinnen geben. Jedoch mit gemeinsamer Wertung. Dabei ist der Unterschied zwischen normalsichtig und sehbehindert ein gradueller, der zwischen sehbehindert und blind aber ein fundamentaler. Auch die beste blinde Läuferin hat unter Sehbehinderten keine Medaillenchance.

Regina Vollbrecht ist die weltweit einzige blinde Läuferin, die die IPC-Quali von 3:27 für Rio unterboten hat. Sie ist eine Botschafterin des unverbrüchlichen Willens. Lassen wir das Jahr 2016 herankommen…

Ralf Milke

author: GRR

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