Eine Einstimmung auf die Olympischen Spiele in Rio 2016
Eine Weltreise zu Bronze – Manfred Germar – Die Olympiaserie – Melbourne 1956 – Daniel Becker in Leichtathletik
Mit einem freundlichen Lächeln empfängt uns Manfred Germar an der Schwelle seines Hauses in Refrath bei Köln, in dem der mittlerweile 81 Jahre alte Ex-Sprinter seit vielen Jahren lebt.
Im Wohnzimmer ist schon alles für das Gespräch vorbereitet, das uns zurückführen soll in das Jahr 1956 – zur ersten Olympia-Teilnahme Germars im australischen Melbourne, bei der er, der sich in den Folgejahren zu einem der erfolgreichsten deutschen Sprinter aller Zeiten entwickeln sollte, trotz verheißungsvoller Aussichten auf spätere Erfolge seine einzige olympische Medaille gewinnen sollte.
Auf dem Wohnzimmertisch liegt aufgeschlagen eines von vielen Fotoalben, das den langjährigen Präsidenten des ASV Köln an seine aktive Sportlerkarriere erinnert. Eine Karriere, an deren olympischen Höhepunkt Germar sich auch 60 Jahre später noch detailliert erinnert.
Eingeschränktes Training
Alles begann mit einem insgesamt 56 Stunden langen Flug von Hamburg-Fuhlsbüttel nach Melbourne. Der Auftakt zu einer Reise, die insgesamt fünf Wochen dauern und den Sprinter und seine Kollegen einmal um die ganze Welt führen sollte. „Es gab damals weder Neckermann-Reisen, noch gab es Ryanair. Wir mussten auf dem Weg nach Australien unter anderem in Istanbul, Teheran, Bangkok und Singapur zwischenlanden“, erinnert sich Germar.
Zurück ging es über die andere Seite des Planeten, mit Stopps auf Hawaii und in Kanada. Rückblickend befindet der ehemalige Sprinter trotz enormer Reisestrapazen kurz und bündig: „Es war ein Traum.“
Doch zurück zum Beginn des sportlichen Abenteuers. Endlich am anderen Ende der Welt angekommen, faszinierte den damals 21-Jährigen besonders das olympische Dorf: „Das war Wahnsinn, und zwar in jeder Hinsicht. Fernab von Europa wohnten wir dort in Bungalows. Das war etwas, das es später so nicht mehr gegeben hat“, erklärt er. Seine Wohnung teilte er sich mit seinem etabliertem Sprintkollegen Heinz Fütterer, „meinem Vorbild“, wie Germar erzählt, sowie mit dem Leipziger Marathonläufer Klaus Porbadnik.
Anders als der extrem trainingsfleißige Fütterer, der auch bei den aufgrund der schwierigen Witterung schlechten Trainingsbedingungen mindestens ein Mal täglich trainierte, verließ sich Germar in Australien auf sein in der Heimat bewährtes, reduziertes Übungspensum. Damit widersetzte er sich den Anweisungen des 400-Meter-Trainers Woldemar Gerschler, der damit drohte, den Sprinter zurück nach Hause zu schicken, wenn er die Anzahl seiner Einheiten nicht aufstockte.
Doch Germar blieb dabei, nur zwei Mal wöchentlich zu trainieren – in dem Wissen, dass zu hartes und zu häufiges Training bei ihm zu einem Leistungsrückgang führte. Eine unpopuläre Entscheidung – aber eine, die am Ende zum Erfolg führen sollte.
Starke 100 Meter
Die XVI. Olympischen Spiele fanden in einem aus weltpolitischer Hinsicht hoch brisanten Kontext statt. Sowohl die Sueskrise in Ägypten als auch der ungarische Volksaufstand hatten im Vorfeld der Veranstaltung die Welt in Atem gehalten. Auswirkungen auf das Miteinander der Athleten habe die politische Lage jedoch nicht gehabt, erklärt Germar.
Ein einziges Mal habe man allerdings auch im fernen Australien gespürt, was außerhalb des Sports auf der Welt wichtig war: „Beeindruckend war, als die Ungarn bei der Eröffnungsfeier eingelaufen sind. Die Zuschauer haben sie so laut gefeiert, als wären es die eigenen Sportler gewesen“, erinnert sich Germar. Letztlich stand jedoch in Melbourne der Sport im Vordergrund – und für den Sprinter des ASV Köln war der Einzelstart über 100 Meter der erste Programmpunkt.
Trotz der Diskussionen über seinen nur mäßig ausgeprägten Trainingseifer ging der Kölner zuversichtlich in den Vorlauf über die kürzeste Strecke: „Ich wusste ja, was ich kann und habe von Beginn an gehofft, in den Endlauf zu kommen“, erinnert er sich.
Und tatsächlich war Germar nach den Zwischenläufen der einzige verbliebene deutsche Sprinter im Wettbewerb, sowohl sein Vorbild Heinz Fütterer als auch der für das gesamtdeutsche Team auflaufende DDR-Athlet Manfred Steinbach waren ausgeschieden.
„Bei der Vorentscheidung musste ich dann meine Startblöcke nicht mehr selber tragen“, erzählt Germar mit einem Lächeln. Dort schaffte er es trotz extremer Hitze schließlich als einziger Europäer ins Finale.
Von innen nach außen liefen: Ira Murchison (USA), Mike Agostini (Trinidad), Thane Baker (USA), Favorit Bobby Morrow (USA), ManfredGermar sowie Hector Hogan (Australien). Am Ende reichte es für den schnellsten Deutschen der Spiele in 10,7 Sekunden für Rang fünf.
Den Olympiasieg sicherte sich mit einem Start-Ziel-Sieg der US-Amerikaner Bobby Morrow (10,5 Sekunden) vor Thane Baker und Hector Hogan. „Ich war mit dem fünften Platz sehr zufrieden, zumal ich dachte, dass ich über die 200 Meter noch etwas hätte erreichen können“, blickt Germar zurück. Doch auf seine olympische Medaille musste er noch ein wenig warten.
Der Staffel-Coup
Das Problem: „Über die 200 Meter war ich leicht lädiert. Daher bin ich nach dem Vorlauf ausgestiegen und habe mich für die Staffel geschont.“ Eine Entscheidung, die sich er Kölner nicht leicht machte, sich letztlich jedoch auszahlen sollte – und das, obwohl die Vorzeichen nicht die besten waren. Neben dem angeschlagenen Manfred Germar gingen mit Lothar Knörzer, Leonhard Pohl und Heinz Fütterer drei weitere Sprinter an den Start, die entweder selber leicht verletzt oder nicht auf der Höhe ihres läuferischen Könnens waren.
So verlief der Weg durch Vor- und Zwischenrunde ins Staffelfinale nicht optimal – erreichen konnten es die Sprinter rund um ihren Kölner Schlussläufer dennoch.
Schon zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Karriere war Germar als ausgewiesener Spezialist auf der letzten Staffelposition bekannt, hatte schon vor den Olympischen Spielen seine Teams des ASV Köln und der deutschen Auswahl zu Siegen und starken Platzierungen geführt und sollte auch auf Jahre hinaus – bis zu den Olympischen Spielen in Rom vier Jahre später – auf dieser Position gesetzt sein.
Und auch im Finale von Melbourne lief Germar ein starkes Rennen. Einzig die Staffelmannschaften der USA, die in neuer Weltrekordzeit von 39,5 Sekunden zu Gold liefen, und Russlands (Silber in 39,8 Sekunden) waren nicht zu schlagen.
Mit dem Gewinn der Bronzemedaille gelang der deutschen Staffel jedoch allen Widrigkeiten zum Trotz der Medaillencoup.
Die Enttäuschung über die verpasste Einzelmedaille hielt sich daher für Germar in Grenzen: „Ich hatte an Olympischen Spielen teilgenommen und eine Medaille in der Staffel gewonnen. Da dachte ich mir: Das ist doch auch schon was“, erklärt er. Und trotz der vielen Siege, die der Kölner in den späteren Jahren noch gewinnen sollte, sagt er über den bronzenen Triumph aus Melbourne: „Es ist meine höchste Medaille. Vielleicht zählt noch die Goldmedaille bei der EM 1958 über 200 Meter mehr. Aber wir waren als deutsche Staffel schon wahnsinnig stolz, das war eine tolle Sache.“
Und auch für die Zukunft standen die Zeichen für Manfred Germar gut. Nach Olympia in Melbourne siegte der Kölner über 200 Meter in Serie – sage und schreibe 74 aufeinanderfolgende Siege machten ihn nicht nur im Jahr 1958 zum Europameister, sondern im Vorfeld der Olympischen Spiele in Rom 1960 auch dort zum großen Favoriten.
In Italien, so Germar, habe er seinen „großen Erfolg“ feiern wollen. Doch Verletzungen und eine insgesamt unglücklich verlaufene Vorbereitung verhinderten, dass Sprinter in seiner Karriere weitere olympische Medaillen sammeln konnte.
Stattdessen ging in der italienischen Hauptstadt der olympische Stern von Armin Hary auf. An seinen Doppelerfolg über 100 Meter und in der Staffel erinnern wir in der kommenden Woche.
Daniel Becker in Leichtathletik Nr. 18, April 2016