Matthias Politycki: 42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken. Hamburg: Hoffmann und Campe 2015. 314 S.; 20 € ©Hoffmann und Campe Verlag
Eine Grammatik des Marathonlaufes – 42,195 Km bis zum Eintritt in den Garten Eden – Die Rezension von Prof. Dr. Detlef Kuhlmann in SPIRIDON
Eine Grammatik beschreibt gemeinhin die Struktur einer Sprache mit dem zugrunde liegenden Regelsystem. Das neue Buch von Matthias Politycki ist im übertragenden Sinne eine Grammatik des Marathonlaufes.
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Damit steht auch fest, was das Buch nicht ist: kein Roman, weder Reportage noch Trainingstagebuch. Politycki will gemäß Untertitel eine einzige Frage beantworten: „Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken“. Dazu benötigt er 42,195 Kapitel, nimmt uns vorher mit in den „Startbereich“ (Vorwort) und lässt uns auch danach im „Zielbereich“ (Nachwort) nicht ganz allein.
Diese Grammatik ist klar und verständlich – ja geradezu „schön“ – geschrieben. Alle können sie auch ohne Vorkenntnisse erlernen und gleich anwenden – also mitlaufen. Man muss nur Politycki vorher gründlich genug gelesen haben. Muss man sich auch immer an ihn halten? Nein, aber man kann auf ihn zurückgreifen, will man das Phänomen Marathon besser verstehen.
Und warum laufen wir nun Marathon und was denken wir dabei?
Politycki gibt darauf eine umfangreiche und zugleich eine sehr persönliche Antwort, in der sich viele hier und da wieder finden werden, die schon mindestens einmal Marathon gelaufen sind. Und wer den Marathonlauf erst noch kennen lernen will, dem gibt die Politycki-Grammatik einen Einblick in seine Mache.
Politycki geht dabei Schritt für Schritt so vor: Wir gehen mit ihm an den Start, er nimmt uns mit in sein(e) Rennen, fragt sich beispielsweise gleich bei Km 1 „Alles richtig gemacht?“ (Kapitel-Überschrift); er läuft bei Km 4 über „Die blaue Linie“.
Apropos Grammatik: Wir lernen von ihm bei Km 15 „Läuferdeutsch“ und stellen bei Km 21 ernüchternd fest: „Die Elite ist schon durch“, bei Km 27 heißt es dann „Haltung wahren“.
Wie nicht anders zu erwarten war, begegnet ihm bei km 32 „Der Mann mit dem Hammer“; ab Km 40 dürfen wir uns schon mit „Trophäen“ beschäftigen, bevor der Autor bei Km 42 schließlich die „Fata Morgana“ sieht: „Das profane Portal ist nichts weiter als der Eintritt in den Garten Eden alias Zielbereich“ (S. 298). Da darf ein letztes Mal gejubelt werden, denn: „Direkt hinterm Ziel grinst keiner mehr. Macht keiner einen Luftsprung, feiert niemand“.
Die „Postmarathonale Depression“ (Überschrift im Ziel) nimmt ihren Lauf. Das große Glück, seinen ersten Marathon gefinisht zu haben, kommt nie wieder. Anders und im Sinne einer Grammatikregel: Je mehr Rennen du absolviert hast, umso weniger Euphorie ereilt dich jeweils beim Überschreiten der Ziellinie – jedenfalls nach der Grammatik von Politycki!
Und wer ist noch mal dieser Matthias Politycki? Politycki ist natürlich selbst Marathonläufer, lebt und läuft vornehmlich in München und Hamburg, wo er einer Laufgruppe angehört, über deren Mitglieder wir beiläufig dieses und jenes (Witziges) erfahren. Im richtigen Leben ist Politycki ein bekannter, weil ziemlich erfolgreicher Schriftsteller, der seit über 25 Jahren Romane, Erzählungen, Essays sowie Gedichte publiziert – zuletzt 2013 „Samarkand Samarkand“, davor u.a. „Weiberroman“ und „Ein Mann von vierzig Jahren“.
Ist Politycki also ein zweiter Günter Herburger? Die Frage ist erlaubt, kann aber verneint werden: Politycki bezieht sich zwar im Buch auf Herburger, schreibt aber ganz anders und bemängelt sogar beiläufig (vgl. S. 77), dass es angeblich so wenige (schreibende) zeitgenössische Autoren unter den Marathonläufern gibt. Politycki, der am 20. Mai sein 60. Lebensjahr vollendet hat, gehört so oder so der Nachfolgergeneration von Herburger an.
Ob sich daher die Läufergeneration von Politycki – zu der ich mich als sein Altersgenosse zählen darf – durch das Buch besonders angesprochen fühlt? Das müssen im Grunde die jungen Leute entscheiden. Aber die Frage lautet für alle gleich: Warum laufen wir Marathon?
An einer Stelle mitten im Buch gibt Politycki darauf eine knappe, aber geradezu augenscheinliche Antwort – nämlich der „Eindrücke wegen. Und was wir dabei denken? Gar nichts, das ist es ja! Wir sind ganz Auge, mehr läßt (sic! D. K.) die Dynamik des Ereignisses nicht zu“ (S. 180).
Allein der Eindrücke wegen lohnt die Lektüre seiner Grammatik. Auch hier beim Lesen sind wir immerzu ganz Auge – nur mit einem eklatanten Unterschied zum Laufen eines Marathons: Bei der Lektüre des Buches können wir die Dynamik des Ereignisses unaufhörlich anhalten und in eine Reflexion überlaufen. Beim Marathon ist ständiges An- oder Innehalten eher nicht angesagt, bei der Lektüre von Politycki aber immer wieder angebracht. Nur so können wir die Tiefenstruktur seiner Grammatik erfassen und mit in das nächste Rennen nehmen, um dann daraus unsere eigene Grammatik zu bilden.
Denn: Jeder muss den Marathon selbst laufen und schauen, was die Dynamik des Ereignisses an Eindrücken zulässt.
Matthias Politycki: 42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken. Hamburg: Hoffmann und Campe 2015. 314 S.; 20 €
Prof. Dr. Detlef Kuhlmann in SPIRIDON – Nr. 6 – Juni 2015
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