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08
2021

Sebastian Coe, Präsident World Athletics - 2016 IAAF Gala Monte Carlo, Monaco December 2, 2016 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

Eine Geschichte von Macht und Millionen – Die Historie des Weltverbands der Leichtathletik ist geprägt von Betrug, Erpressung und Korruption – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Tokio und die Leichtathletik – für Deutsche ist der Ort mit lebhaften Erinnerungen verbunden. Willi Holdorf wurde mit seinem Olympiasieg im Zehnkampf von Tokio 1964 zu einer Ikone des deutschen Sports, als er im Ziel des 1500-Meter-Laufs auf die Aschenbahn sank. Für ihn wie für Karin Balzer aus Magdeburg, Olympiasiegerin über 80 Meter Hürden, wurde bei der Siegerehrung Beethoven gespielt: die Ode an die Freude.

Beide gehörten, drei Jahre nach dem Bau der Mauer, der letzten gemeinsamen Olympiamannschaft von Bundesrepublik und DDR an.

Die Weltmeisterschaft von Tokio 1991, zwei Jahre nach dem Fall der Mauer, schien mit Katrin Krabbe einen internationalen Star hervorzubringen, die Schnellste über 100 und 200 Meter. Die Frau aus Neubrandenburg machte keinen Hehl daraus, dass ihr der Wechsel aus dem blauen Trikot der DDR, in dem sie im Jahr zuvor bei der Europameisterschaft von Split drei Titel gewonnen hatte, ins weiße mit dem Bundesadler schwerfiel.

„Trainer, Funktionäre und Betreuer waren bemüht, deutsche Einigkeit herbeizureden“, resümierte die F.A.Z., „machten aber immer wieder die systematische Zerrissenheit deutlich.“ Trainer Thomas Springstein behauptete: „Wir haben doch bewiesen, dass unser System auch ohne Doping funktioniert.“ Ein Jahr später, als die Sportwelt sich für die Spiele von Barcelona versammelte, flog das Doping seiner Trainingsgruppe auf. Katrin Krabbe wurde gesperrt.

Tokio markiert Meilensteine der Leichtathletik.

1964 war die Sportart noch Kern Olympias und Olympia Kern der Leichtathletik. Weltmeisterschaften gab es nicht. Tokio 91 steht für die Kommerzialisierung des Sports. Tokio war erst die dritte WM, doch erhöhten der Weltverband IAAF und dessen Präsident Primo Nebiolo den Rhythmus der Titelkämpfe von vier auf zwei Jahre.

Die Geschichte des Verbandes, der sich 2019 infolge des russischen Dopingskandals und ungeheuerlicher Korruption in World Athletics umbenannte, hat Jörg Krieger für sein E-Book „Power and Politics in World Athletics – A Critical History“ erforscht (Routledge, 2021).

Für den deutschen Historiker, Junior-Professor an der Universität von Aarhus, ist der Weg des Verbandes untrennbar mit dessen mächtigen Präsidenten verbunden. Deren Autorität wurde praktisch nie angezweifelt. Die ungenierte Bereicherung, die Lamine Diack während seiner Präsidentschaft bis 2015 auch durch Betrug und Erpressung von Athleten und Verbänden betrieb, liegt für Krieger auf einer Linie, die mit der Etablierung des ersten Leichtathletik-Präsidenten, des Schweden Sigfrid Edström, beginnt. „Diack konnte die Strukturen und Gewohnheiten des Verbandes nutzen, um korrupte Praktiken zu schützen“, schreibt er: „Da diese organisatorischen Merkmale immer noch tief in der IAAF verwurzelt sind, erscheinen sogar die jüngsten Reformen unzureichend, das anzugehen, was inhärent falsch ist am Führungsverhalten der weltweiten Leichtathletik.“

Die Erfolge der Integrity Unit, in die World Athletics unter anderem die Dopingverfolgung ausgelagert hat, sprechen nicht gegen diesen Befund. Sie lassen die Leichtathleten besonders gut aussehen, weil viele andere Weltverbände das Thema lasch angehen.

1912 gegründet, hatte der Leichtathletik-Weltverband bis heute lediglich sechs Präsidenten. Der Niederländer Adriaan Paulen führte ihn fünf Jahre, der Brite Sebastian Coe ist seit 2015 im Amt. Macht für die übrigen vier fast ein Jahrhundert: 34 Jahre für Edström, 30 für Lord Burghley, 18 für Primo Nebiolo und 16 für Diack. Sportführer missachteten oft, willentlich und unwillentlich, die Wirklichkeit des Sports, schreibt Krieger: „Die hierarchische Struktur der IAAF, üblich im System des internationalen Sports, machte es notwendig, dass ich mich auf die Personen konzentrierte, die an der Spitze der Befehlskette standen.“

Oberster Befehlshaber ist traditionell der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Der erste von ihnen, Pierre de Coubertin, schrieb 1912, Weltverbände seien verabscheuungswürdig: „Sie dienen allein als Instrument der Tyrannei.“ Jahrelang hatte der Gründer der neuzeitlichen Spiele gegen die Gründung eines Leichtathletik-Verbandes gekämpft – weniger, um Tyrannei zu verhindern, als vielmehr, um das Monopol seines IOC zu erhalten. Erst 16 Jahre nach den Spielen von Athen erlaubte de Coubertin die Gründung der International Association of Amateur Federations (IAAF/später Athletics Federations). Er hatte eine Bedingung: Sie sollte keine eigenen Weltmeisterschaften austragen. „Die Olympischen Spiele sind die einzige Meisterschaft unseres Verbandes“, versicherte Gründungspräsident Edström noch 1931: „Wir halten keine besonderen Weltmeisterschaften ab, keine Europa-, keine Asien-Meisterschaft.“ Dafür erwarteten sie, immerhin, Spesen vom IOC. „Dieser Handel war die Saat für enge künftige Beziehungen zwischen IOC und IAAF-Anführern, welche den globalen (olympischen) Sport für ein Jahrhundert formen würde“, schreibt Krieger.

Die großen Verbände seien nicht Kreditnehmer, sondern Kreditgeber, machte 1957 Burghley dem IOC-Präsidenten Avery Brundage deutlich: „Sie platzieren ihre Anlage (ihre Weltmeisterschaft) bei der Bank (dem IOC und dem Organisationskomitee) und haben dies bislang zinslos getan. (…) Die Kreditgeber sind nun zur Bank gekommen und sagen, dass sich zu ihrem Bedauern die finanzielle Lage so sehr verändert hat, dass sie gezwungen sind, der Bank für ihre Einlage Zinsen zu berechnen.“

Mit dieser Drohung, die auch die Gründung von Weltmeisterschaften umfasste, erreichte die IAAF, neben substantiellen Zahlungen, die Aufnahme der 800 Meter der Frauen (1960) sowie der 400 Meter und des Fünfkampfs der Frauen (1964) ins olympische Programm. Mitte der Siebzigerjahre kamen Paulen und sein Nachfolger Nebiolo zu der Überzeugung, dass der Verband nur mit eigener Weltmeisterschaft überleben würde. Die erste fand 1983 in Helsinki statt.

Seitdem klingelt die Kasse.

Allein vom japanischen Fernsehen kassierte Nebiolo 29 Millionen Dollar für die Übertragungsrechte von Tokio 91. Von den europäischen Sendern, der EBU, kassierte er, befeuert von der Begeisterung über die WM in Stuttgart 1993, 130 Millionen Dollar für vier Jahre. Er belohnte sich dafür, indem er stets erster Klasse flog – wenn kein Privatjet zur Verfügung stand.

Heute liegt das jährliche Budget von World Athletics jenseits von fünfzig Millionen Dollar. Alle vier Jahre kommen rund 40 Millionen Dollar vom IOC. Die jüngste veröffentlichte Bilanz des Verbandes weist für 2019 Einnahmen von 51,1 Millionen Dollar aus, davon 43,9 aus Fernsehrechten und Werbeeinnahmen – bei Ausgaben von 67,8 Millionen Dollar, die hohe Anwaltskosten für die Verbandsreform enthalten. 17 Millionen Dollar mussten aus den Rücklagen lockergemacht werden, Einsparungen und Entlassungen trafen das Personal am Verbandssitz in Monaco. Die sogenannte olympische Dividende allerdings wurde nicht angetastet, sondern auf 4,7 Millionen Dollar erhöht: Unterstützung für die bedürftigen der 214 Mitgliedsorganisationen. Man kann dies als Sozialprogramm verstehen. Man muss aber auch wissen, dass auf diesen Zahlungen die Macht des Präsidenten beruht. Jeder Verband hat eine Stimme, ob es sich um die Vereinigten Staaten von Amerika mit 330 Millionen Einwohnern handelt oder um die Norfolkinseln mit zweitausend.

John Hoberman, der sportaffine Deutsch-Professor der University of Texas, lobt das Buch von Krieger als „kraftvolles Gegengift zu den von ,Chariots Of Fire‘ (deutsch: Die Stunde des Siegers, Film, Anm. d. Red.) inspirierten Phantasien von einer vormodernen, Vor-Doping-Zeit der Unschuld“, in der die Führung von Elite-Sport substantiell anders gewesen sei als heute. Doch „die formative Phase der IAAF enthielt elitäres Denken, Vetternwirtschaft, rassistischen Ausschluss, Machtspiele und nationalistische Interessen, die unter den Geschäftsgrundsätzen der Weltverbände von heute verblieben sind“. Körperlich arbeitende Menschen schloss die Idee des sporttreibenden Adels vom Amateur aus, Frauen ebenso.

Als wollte World Athletics das Fortbestehen der Exklusivität seiner frühen Tage bestätigen, hat der Verband die Nominierung von Markus Rehm für die Olympischen Spiele von Tokio abgelehnt – Spiele, bei deren Eröffnungsfeier zum Zeichen der Inklusion Tänzer in Rollstühlen und Menschen mit Beinprothesen wie selbstverständlich eine Bühne hatten. Rehm aber, nominiert von den deutschen Verbänden, darf nicht mitmachen, weil World Athletics seine Prothese als nicht regelgerechtes Hilfsmittel einordnet. Das oberste Sportschiedsgericht (Cas) in Lausanne gab dem Verband recht.

„World Athletics folgt der Tradition des Weltverbandes: Du gehörst bei uns nicht rein!“, schimpft Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensport-Verbandes: „Eine Schande!“

Er habe Coe als aufgeschlossen und Paralympics-affin kennengelernt, erzählt Beucher. „Er und seine Führung geben Partizipation vor, wollen sie aber nicht wirklich.“

Tokio 2021 hätte ein Meilenstein werden können.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 5. August 2021

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR