Der amerikanische Fernsehmoderator Jeremy Schaap beschreibt den Triumph, auf den er das Leben von Owens zuspitzt, als paradoxen Erfolg. Eigentlich hätten die Amerikaner die Spiele Nazi-Deutschlands boykottieren und damit den armen Jungen aus dem Süden um den frühen Gipfel seines Lebens bringen müssen.
Ein Schwarzer unter jubelnden Ariern – Sind Owens Olympiasiege paradox? – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)
So könnte ein Film beginnen: Die Mutter sterilisiert über dem Feuer in ihrer schäbigen Hütte eine Klinge. Während ihr gerade fünf Jahre alter Junge tapfer auf einen Lederriemen beißt, kauert sich der Vater, Sohn eines Sklaven, schluchzend in eine dunkle Ecke.
Langsam erhebt sich die Sonne über Oakville, Alabama, im Herbst 1918. So arm sind die schwarzen Eltern, dass statt eines Arztes die Mutter mit dem Küchenmesser in der Hand um das Leben ihres zehnten und jüngsten Kindes kämpfen muss. Ohne jede Betäubung schneidet sie ihm, nah am Herzen, einen Tumor von der Größe eines Golfballs aus der Brust.
Als das geschwächte Kind drei Tage später blutend aus der Tür taumelt, kniet sein Vater im Staub. "J. C. ist der Letzte, den du mir gabst, meinen Namen zu tragen", betet er. "Sie stirbt, wenn du ihn mir nimmst. Sie hat immer gesagt, dass er als etwas Besonderes geboren ist."
Als der Vater seinen Sohn bemerkt, lässt er ihn neben sich niederknien. Gemeinsam rufen sie Gott an. Fortan geht es dem kleinen James Cleveland immer besser. Er wird groß und stark. Er läuft immer schneller und springt immer weiter. Aus J. C. wird Jesse Owens. Mit 22 Jahren fährt er im Team der Vereinigten Staaten über den Atlantik und stiehlt Hitler bei dessen Olympischen Sommerspielen von 1936 vier Goldmedaillen und wird zu deren Held.
Der amerikanische Fernsehmoderator Jeremy Schaap beschreibt den "Triumph", auf den er das Leben von Owens zuspitzt, als paradoxen Erfolg. Eigentlich hätten die Amerikaner die Spiele Nazi-Deutschlands boykottieren und damit den armen Jungen aus dem Süden um den frühen Gipfel seines Lebens bringen müssen. Ausgerechnet der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees wird zum moralischen Gegenspieler und dadurch zum Förderer von Owens Aufstieg: "Ohne die Kaltschnäuzigkeit, Durchtriebenheit, Deutschenliebe, ohne den Antisemitismus und die tief verwurzelte Bigotterie von Brundage wäre Jesse Owens nie ein Olympier geworden."
Das ist der Konflikt, auf dem Schaap die Geschichte aufbaut: Sollte sich Owens, das Kind des rassistischen Südens, aus politischen Gründen weigern, seine überragenden läuferischen Fähigkeiten in die Aussicht auf persönlichen Aufstieg umzumünzen?
Das ist allerdings nicht wirklich eine Frage für Jesse. Er will nichts anderes als laufen – mit dem Ziel, so legt Schaap ihm in den Mund – "der amerikanischen Variante des Hitlerismus" in den Südstaaten zu entkommen. Als er im Vorkriegs-Berlin den Sprint, den 200-Meter-Lauf, den Weitsprung und auch noch die Sprintstaffel gewinnt, da ist er für Schaap einer der "schwarzen Amerikaner in einem Meer von Ariern", da jubelt ihm "die Herrenrasse" zu. Schaap liebt Schwarzweißbilder.
Weder Klischees noch längst widerlegte Legenden scheut der Autor. Doch wie Owens später seine Biographen ausführlich beschreiben ließ, was das Publikum hören wollte, so orientiert sich auch Schaap mindestens so stark an der Story wie an der Historie. Ob es Hitler ist, der sich abwendet, um Owens, dem Schwarzen, nicht gratulieren zu müssen, oder die Mutter mit dem Küchenmesser in Jesses Brust: Die Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Episode sind erdrückend, doch sie ist zu schön, um nicht ausgemalt zu werden.
Gleichwohl ist eine Stärke des Buches die Suchmaschine, die hinter ihm steckt: Archivare, Reporter und Lektoren setzte der Verlag in Bewegung, ohne Schaap vor dem Vorwurf historischer und sachlicher Ungenauigkeit bewahren zu können.
So lässt er Owens seinen Absprung hinter dem Balken statt davor markieren. Doch aus den massenhaft zutage geförderten zeitgenössischen Zeitungsartikeln zitiert Schaap eine authentische Kulisse herbei, der wunderbare Nebenfiguren wie Jesses kalifornische Geliebte Quincella Nickerson und der Sprinter Eulace Peacock entsteigen, der Owens in zehn Wettbewerben des Jahres 1935 siebenmal besiegte, 1936 aber verletzt war.
Auch ist zu lesen, dass nicht nur das Naziblatt "Der Angriff" von den "schwarzen Hilfstruppen der Amerikaner" schwadronierte, sondern auch die "Los Angeles Times" 1936 über die "Dunkelstadt-Parade" und "unsere äthiopischen Truppen" berichtete.
Vielleicht kein Drehbuch für Hollywood, aber gewiss das Bewerbungsschreiben dafür ist "Triumph". Schaap nimmt das Schlussbild aus Leni Riefenstahls Olympiafilm: Jesse Owens tritt nach dem Weitsprung dem Betrachter lächelnd entgegen.
"Schaut genau hin!", schreibt Schaap, und dann rettet ihn die englische Sprache. "Hier ist euer Superman."
Er meint doch nicht wirklich Übermensch?
MICHAEL REINSCH
Frankfurter Allgemeine Zeitung
31. März 2007
Besprochenes Buch:
Jeremy Schaap, "Triumph – the untold Story of Jesse Owens and Hitler's Olympics".
In englischer Sprache. Houghton Mifflin, Boston, New York.
272 Seiten, 18 bis 20 Euro.
PS: Das Bild vom Sportmuseum Berlin/Forum für Sportgeschichte "Jesse Owens gibt Autogramme an Zuschauer" ist bisher nie veröffentlicht worden.
Es war zur Zeit der Olympischen Spiele bei den NS-Machthabern unerwünscht, daß andersfarbige Athleten derartige Popularität bei der Bevölkerung genossen.
Das Bild des Sportmuseum Berlin/Forum für Sportgeschichte von Jesse Owens hängt jetzt im Lichthof des "Haus des Deutschen Sports" in einer Serie des Weitsprungs vor den Büroräumen des Organisationskomitees
BOC Berlin 2009.