"Die Leichtathletik gibt es nicht", sagt Harksen. "Die Leichtathletik hat 47 olympische Disziplinen", sagt Mallow. "Hammerwurf, Dreisprung und Marathonlauf haben nichts gemeinsam", sagt Czingon.
Ein Schimmer von Traurigkeit – Die deutsche Leichtathletik im Winter zwischen Olympia und Heim-WM – Porträt eines Kernsports, dem das Massenpublikum entgleitet – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung
Jena – So schwarz ist dieser Tag geworden, dass er wie die Kulisse zur Krise aussieht. Es ist, als wären Jena und die Oberaue in ein Tintenfass gefallen, und auch das matte Licht, das aus den Fenstern der alten Springerhalle sickert, kann sich nicht durchsetzen gegen die Dunkelheit des Winters.
Sophie Krauel hat den Mantelkragen hochgeschlagen und geht ihren Weg an erloschenen Flutlichtern vorbei, durch die Fußballfelder in den Leichtathletik-Bau, dessen Laufhalle wegen Einsturzgefahr gesperrt ist.
Sie kommt von der Uni, sie geht ins Training, das ist gerade der Rhythmus ihres Lebens, in dem sie mit 19 hörte, sie sei eine der größten Hoffnungen ihres Sports, und in dem sie dieses Jahr, mit 23, nach drei Jahren Verletzungspause deutsche Meisterin im Weitsprung geworden ist.
Die Halle ist leer, ab sechs ist kaum mehr jemand da. Sie schon, weil es wegen des Pharmaziestudiums nicht anders geht; und weil sie da ist, ist auch Trainer Stefan Poser da. Später kommt ein Senioren-Stabhochspringer dazu, und der Hausmeister, der mit dumpfem Gleichmut seine dröhnende Reinigungsmaschine über die Bahnen schiebt. Ein Hauch von Traurigkeit liegt über der Szene, aber Sophie Krauel springt und fliegt, und sie lächelt, wenn sie aus der Sandgrube steigt. Und auf die Frage, was es ihr bedeute, eine Leichtathletin zu sein, zögert sie keinen Augenblick. "Es ist schon was, worauf ich stolz bin, muss ich sagen."
Es ist die Zeit zwischen den Jahren im Mediensportdeutschland. Die Geräusche schürfender Ski dringen in die Wohnzimmer, Bob-Gerumpel auf Kunsteis und aufgeregte Reporterstimmen. Während die Leichtathletik, die alte olympische Kernsportart, ihren Frieden sucht zwischen den Eindrücken des vergangenen Sommers und den bangen Erwartungen vor dem nächsten. Die Spiele von Peking waren auch ihre Chance auf mehr Achtung in der Fernsehnation. Aber dann sind die deutschen Teilnehmer untergegangen zwischen jamaikanischen Helden und anderen Sagengestalten.
Einmal Bronze durch die Speerwerferin Christina Obergföll, Minusbilanz, und nächsten August folgt die Heim-WM in Berlin. Die nächste Chance, manche sagen, die letzte vor dem Vergessen. Es ist eine verzwickte Geschichte, und es geht dabei nicht nur um Medaillen. Es geht um einen Kulturkampf. Dem Massenpublikum im Sportland entgleitet langsam das Bewusstsein für die ursprünglichste Form des athletischen Wettkampfes.
Sophie Krauel mag an der Leichtathletik, dass sie klar ist und unverstellt: Der Mensch allein ist das Maß beim Laufen, Springen, Werfen, und seine Natur der Wert, der im Wettkampf auf dem Prüfstand steht. Diese Schlichtheit fasziniert sie, aber sie sieht auch, dass im deutschen Ereignisalltag dafür immer weniger Raum bleibt.
"Es beschäftigt mich schon, dass die Leichtathletik so untergeht", sagt Sophie Krauel, gerade in Jena, wo einst die Weitsprung-Olympiasiegerin Heike Drechsler groß wurde. Die neue Laufhalle lässt auf sich warten, weil Stadt und Land ums Geld streiten. Fußball-Drittligist FC Carl Zeiss Jena will das Ernst-Abbe-Sportfeld in eine reine Fußballarena umbauen. Das Zeiss-Meeting ist ohnehin längst eingegangen.
Und Sophie Krauels Trainer hatte sogar mal seinen Job beim Landesverband verloren, weil Misserfolg Fördergeld kostete. "Thüringen ist Wintersportland", brummt Stefan Poser. Im telegenen Wintersport gewinnen teilweise mehr Thüringer als Kanadier Olympia-Medaillen, die Leichtathleten dagegen qualifizieren sich kaum für die Großereignisse. Poser hat sich in den Job zurückgeklagt, ab 1. Januar wird er mischfinanziert von Stadt und Fachverbänden, es ist gut gegangen.
Trotzdem, Poser grübelt. Ist Erfolg nicht eine Frage der Perspektive? Sophie Krauel war zweifache Junioren-Europameisterin und Zweite der Junioren-WM. Dieses Jahr war Posers 200-m-Schüler Robert Hering Dritter der U20-WM. Und auch Enrico Kühn und René Hoppe haben bei ihm sprinten gelernt, zwei Olympiasieger im Viererbob.
Erfolg in der Leichtathletik ist ein weites Feld. Das sieht man schon an der deutschen Bilanz von Peking, die Jürgen Mallow, seit Olympia statt Chefbundestrainer nun Sportdirektor, sowie die neuen Chefbundestrainer Rüdiger Harksen und Herbert Czingon zuletzt auswerteten, und zu der die Chefs zunächst Grundsätzliches anmerken müssen. "Die Leichtathletik gibt es nicht", sagt Harksen. "Die Leichtathletik hat 47 olympische Disziplinen", sagt Mallow. "Hammerwurf, Dreisprung und Marathonlauf haben nichts gemeinsam", sagt Czingon.
Für die Enttäuschung von Peking gibt es deshalb fast so viele Gründe wie Starter des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Verletzungspech, falsches Gesundheitsmanagement, trainingsmethodische Fehler, mentale Schwächen, "wir kommen ins Tausendste". Harksen winkt ab. Kritiker rufen nach mehr Härte gegen Athleten. Aber die Zeiten der autoritären DDR-Leichtathletik sind nun mal vorbei, dazu stehen die Chefs. Und für Vertragsleichtathleten, wie Briten und Belgier sie unterhalten, fehlt das Geld.
Immerhin hat der Deutsche Olympische Sportbund das absurde Fördersystem mit seinem Belohnungsprinzip entschärft. Das öffentliche Geld fließt jetzt nicht mehr nur nach Medaillen wie noch 2004, als der DLV nach der Zweimal-Silber-Bilanz von Athen in Armut stürzte, sondern nach Zielvereinbarungen. Neue Trainer konnten dadurch kommen, die Geldnot ist etwas gelindert. Sportlich wollen sich die DLV-Verantwortlichen also nicht zu klein reden. Sie wissen, dass das Abschneiden von Peking zu schlecht war für die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, und dass sie es in Berlin besser machen müssen.
Trotzdem ist da noch eine andere Ebene. Denn Leichtathletik ist ja nicht irgendein Sport.
"Leichtathletik ist die Kernsportart schlechthin für die motorische Ausbildung von Kindern", sagt Harksen. Mit einer DLV-Mannschaft ist auch ein gesellschaftliches Anliegen verbunden, sozusagen PR für eine ausgewogenere Bewegungsschule im Land mit seinen Schreckensstatistiken um zivilisationskranke, computerverzogene Jugendliche. Sportliche und gesellschaftliche Dimension überlagern sich hier, was den Stellenwert der Leichtathletik stärkt, aber auch Symptom ihrer Krise ist. Denn die Leichtathletik leidet genau an den Faktoren, deren Folgen sie bekämpfen will. Demographischer Wandel, schwacher Schulsport, Massenmedienkonsum. Mallow sagt: "Unsere gesamtgesellschaftliche Bewegungskultur ist unterentwickelt."
Trotzdem bleiben Medaillen der Maßstab für Aufmerksamkeit, und so dreht sich der Teufelskreis immer wilder. Zumal nicht jeder Erfolg zieht. Bei der WM 2007 in Osaka gewann der DLV stattliche sieben Medaillen, der deutsche Nachwuchs war dieses Jahr Zweiter der Junioren-WM, Ariane Friedrich sprang konstant über 2,00 Meter hoch, Läuferin Irina Mikitenko gewann die Marathon-Klassiker London und Berlin. Im Fernsehen sind Leichtathleten trotzdem selten. "Typen!", ruft Harksen, "wir brauchen Typen!" Hat der DLV etwa keine?
300 Sportler kleidet er jährlich ins Nationaltrikot, die meisten sind ausgeprägte Individualisten wie der launische Diskus-WM-Zweite Robert Harting oder der sonnige 10 000-m-Europameister und Physikstudent Jan Fitschen. Aber Harting war Vierter in Peking, Fitschen, ohnehin chancenlos gegen die Elite aus Afrika, verpasste die Olympia-Norm. Beides reicht nicht zum Publikumserfolg.
An Sophie Krauels Karriere kann man sehen, wie unwägbar der Weg in die Leichtathletik ist: Mit sieben entdeckt, mit zehn in Jenas Sportgymnasium gekommen, Erfolge gesammelt, geehrt, interviewt, hochgejubelt, mit chronischen Schienbeinschmerzen ins dreijährige Martyrium gerutscht. "Verheizt?", fragen manche. Sie sagt, ihr Jugendtraining sei schonend gewesen, eher habe sie ihr Anspruch überlastet, als Sportlerin, Abiturientin und Zukunftshoffnung perfekt zu sein. Sophie Krauel sagt: "Ich fand mein Leben unglaublich anstrengend."
Sophie Krauel mag Medaillen. Medaillen sind ihr Ansporn. Aber die Medaillenmanie mag sie nicht, den kurzen Blick der Leute auf ihren zerklüfteten Sport, etwa dieses Aufrechnen von Erfolgen in der globalen Leichtathletik gegen Erfolge im kleinen Wintersport. "Und dann ist – ich muss es jetzt einfach ansprechen – die Dopingfrage immer wieder ein Thema, die von vielen Laien einfach nicht verstanden wird." In ihrer Stimme schwingt leise Verzweiflung. "Die können sich nicht vorstellen, dass Leute, die Weltrekorde laufen, gedopt sind. Für die sind das Stars und sie fragen: Warum kriegen das die Deutschen nicht hin?"
Jürgen Mallow bekam nach Olympia Emails, in denen es hieß: "Dopt doch auch, dann seid ihr erfolgreicher!" Mallow ist ein hagerer Mann, der einen väterlichen Ernst ausstrahlt, mancher könnte ihn bieder nennen, aber der Stolz auf seine hohe Moral ist echt. Er ruft den Dopingfreunden zu: "Wir haben uns entschieden, das wollen wir nicht. Das ist ganz eindeutig. Dann sind wir halt leider die anständigen Verlierer."
Deutschland hat eine bewegte Dopingvergangenheit, in der DDR gab es staatliches Systemdoping, im Westen freie Dopingpraxen, und nach der Wende ging es weiter. Die Widersprüche, die sich daraus ergeben, belasten den DLV bis heute, und keiner kennt alle Abgründe. Aber der DLV pflegt mittlerweile eine fortschrittliche Antidopingpolitik mit Aktionen des Präsidenten Clemens Prokop für ein scharfes Antidopinggesetz. Und mit einer neuen Athleten-Generation um Leute wie die ernsthafte, fröhliche Hochbegabte Sophie Krauel, für die Peking 2008 mal das Fernziel war, die es wegen ihrer Verletzung aus dem Auge verlor und diesen Sommer dann mit ungläubigen Blicken vor dem Fernseher saß, als Sprinter Usain Bolt einen Weltrekord nach dem anderen aufstellte.
Sie traute ihrem eigenen Sport nicht. "Vielleicht weil ich Mitkämpfer bin und selber Erfolge haben möchte, und das auf absolut ehrlichem Wege. Ich würde auch lieber die Bilder wirken lassen, aber dann mache ich mir Gedanken und kann mich einfach nicht freuen. Ich bin wirklich enttäuscht, dass die Situation so ist. Und dass man nichts daran ändern kann."
Rüdiger Harksen sagt: "Gelebt wird bei uns ein ganz hoher Leistungsanspruch. Bloß nicht um jeden Preis. Und das wäre der Wunsch: dass man das auch akzeptiert." Aber die Quoten außerhalb der klassischen Großereignisse sind schlecht, die Fans vermissen deutsche Erfolge, und den Vermarktern sind die Formate zu langweilig. Die Leichtathletik mit ihren 47 Disziplinen und 300 Nationalsportlern, ihrer Schlichtheit, ihrer Vielfalt, ihrer sportlichen Mission, ihrem gesellschaftlichen Auftrag, ihrem wechselnden Erfolg und ihrem Dopingproblem scheint nicht hineinzupassen ins Mediensportdeutschland. Sie steckt tief drin im Dilemma zwischen Unterhaltung und Moral.
"Ich glaube, dass sich die breite Öffentlichkeit nicht dessen bewusst ist, dass Leichtathletik ein Kulturgut ist", sagt Sophie Krauel. Die Leichtathletik scheint es ja oft nicht einmal selbst zu wissen. Sophie Krauel würde es gerne ändern. Mit Prominenz durch Erfolg könnte sie dazu beitragen, das glaubt sie fest. Wenn nur der Erfolg nicht so verteufelt schwer zu kriegen wäre in ihrem Sport.
Sie klagt nicht. Sie kann wieder springen, und ihre Förderer haben sie nie fallen gelassen. Sie ist im B-Kader des DLV, sie hat ihren TuS Jena und ihren Platz im Firmenteam eines leichtathletikbegeisterten Herstellers für Sicherheitsprodukte. Sie ist nur manchmal sehr müde. Die Doppelbelastung von Studium und Sport zehrt, aber anders will sie es nicht. Sie liebt die Leichtathletik, aber sie kann ihr nicht vertrauen. Ihre Bestweite liegt bei 6,62 Metern, sie ist jung, sie wird sich steigern. Ob das reicht für einen Platz an der Sonne im Medienland? Nächstes Jahr wagt sie immerhin ein erstes Freisemester. Wegen der WM in Berlin. Die Qualifikationsweite liegt bei 6,72 Meter. "Also auch sehr hoch", sagt sie leise.
Es ist zehn Uhr durch, über allen Kunsteisbahnen ist Ruh", die Nacht hat die alte Springerhalle endgültig verschluckt, und Sophie Krauel schlägt den Mantelkragen hoch. Die Welt wird sich so schnell nicht belehren lassen, und sie muss weiter auf ihrem Weg. Die Straßenbahn kommt. Sophie Krauel, die Leichtathletin, fährt einer langen Nacht entgegen. Sie muss noch ein Protokoll für die Uni schreiben.
Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Mittwoch, dem 24. Dezember 2008