2012 London Olympic Games London, England Aug03-12 2012 Photo: Victah Sailer@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
„Ein Bild – Eine Geschichte“ – Gut und Böse – Michael Reinsch, Peking in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die Zukunft der Leichtathletik entscheidet sich an diesem Sonntagnachmittag um Viertel nach drei unserer Zeit in Peking. Im Vogelnest, dem prächtigen Stadion der Sommerspiele von 2008, geht es um nicht weniger als das Schicksal des Kerns Olympias.
Die beiden Herren, die hier auf dem Foto zu sehen sind, wie sie sich im August 2012 nach dem Sprint-Finale der Olympischen Spiele von London fühlten und aufführten, sind als Hauptdarsteller vorgesehen:
Entweder versetzt der Amerikaner Justin Gatlin seiner Sportart, die ohnehin von Doping-Verdächtigungen gebeutelt ist, den allerletzten Stoß, und der ganze Zirkus taumelt in den Orkus. Oder der Jamaikaner Usain Bolt rettet mit Jubel und Fanfaren die Krone des Sports und eröffnet den klassischen Disziplinen der jahrtausendealten Geschichte unserer Spiele eine triumphale Zukunft.
Für alle Zeiten ein Betrüger
Nicht wenig für knapp zehn Sekunden, oder? Längst geht es nicht mehr allein darum, wer schneller rennt im Weltmeisterschafts-Sprintfinale über 100 Meter: Justin Gatlin, der mit dem Stigma zweier Doping-Sperren und der Hypothek antritt, für alle Zeiten als Betrüger zu gelten – oder Usain Bolt, der Superman aus Jamaika, der das hingerissene Publikum auf seinen eleganten Sprints mitnimmt aus der Welt des Zweifels in Dimensionen jenseits der Realität. Der eine (Gatlin), 33 Jahre alt, ist mit 9,74 Sekunden deutlich schneller als jeder andere Sprinter in diesem Jahr. Der andere (Bolt), 29, hält mit 9,58 Sekunden über 100 und 19,19 Sekunden über 200 Meter seit acht Jahren Weltrekorde, die für Sterbliche eigentlich unerreichbar schienen. Sie sollten, wenn sie das Halbfinale unverletzt und auf ihrem Niveau überstehen, die anderen sechs Finalisten in den Schatten stellen.
Wer dabei war, erinnert sich an die langsam einsetzende Fassungslosigkeit des gerade 22 Jahre alten Bolt, als er, noch voller Freude über seinen ersten Olympiasieg just hier in Peking 2008, von abgebrühten Sportreportern gefragt wurde, wie er denn die Öffentlichkeit davon überzeugen wolle, dass seine Leistung sauber sei. Staunen, Bewunderung, ja, das löste sein Sieg in Weltrekord-Zeit damals aus (gefolgt von Siegen und Weltrekorden über 200 Meter und mit der jamaikanischen Staffel). Doch sein Jubel schon vor dem Ziel und der offene Schnürsenkel eines seiner Spikes erzeugten auch Zweifel und Empörung. Mangelnden Respekt vor der Konkurrenz warf Jacques Rogge, der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, dem Olympiasieger noch während der Spiele vor. Viele teilten seine Empörung. Sie hielten Bolt für einen dreisten Doper.
Lamine Diack, der ehemalige Präsident des Welt-Leichtathletikverbandes, versteht seine Sportart offenbar als Kirche.
Man solle nicht ständig zweifeln und negativ denken, forderte er von der Gemeinde, sondern an die Athleten und ihre Leistungen glauben. Bolt hätte in den sieben Jahren, in denen er bis auf den Sprint von Daegu 2011 jedes olympische und Weltmeisterschafts-Finale gewann, den Zweifel nähren und mehren können. Doch seit Gatlin schneller und schneller rennt, fallen mehr und mehr Zuschauer vom Unglauben ab.
Bolt scheint fast so überrascht wie damals, dass er für die Glaubensgemeinschaft nun als der Gute gilt, der gegen das Böse zu kämpfen hat, das Licht, das den Schatten auf seinem Sport vertreiben soll. „Ich werde oft gefragt, ob ich für einen sauberen Sport kämpfe“, sagte er auf seiner Pressekonferenz in Peking. „Ich laufe für mich selbst. Es gibt viele, die sauber laufen. Es ist die Verantwortung aller, den Sport zu retten und ohne Doper vorwärtszukommen.“ Die Erwartungen, die auf dem Sprinter aus Jamaika ruhen, sind phänomenal. In den vergangenen beiden Jahren legte er lange Verletzungs- und Ruhepausen ein.
Erst nachdem er vom früheren Bayern-Arzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt in München so etwas wie eine Lendenblockade beseitigen ließ, konnte er in diesem Jahr wieder normal trainieren.
Er nennt sein Comeback beim Diamond-League-Sportfest von London Ende Juli gelungen. Zweimal lief er 9,87 Sekunden. Nach den Zahlen – 13 Hundertstelsekunden Unterschied zwischen dem schnellsten Gatlin des Jahres und dem schnellsten Bolt der Saison – kann, wer einen Sieg von Bolt über Gatlin erwartet, genauso gut hoffen, dass er über Wasser geht.
Gatlin nerven die Vorwürfe und Projektionen. Weder seinem Sponsor Nike noch dem Team USA stand er für eine Pressekonferenz zur Verfügung. „Mir ist egal, was sie denken. Ich bin nur ein Läufer wie er auch“, sagte er einem amerikanischen Journalisten. „Wir sind nur Läufer. Es gibt keinen guten Läufer oder bösen Läufer.“
Eine gebrauchte Kanüle
Oder doch? Gatlin hat jahrelang mit Trainer Trevor Graham zusammengearbeitet, der in die Geschichte eingegangen ist, weil er seinerzeit die gebrauchte Kanüle lieferte, welche die Analyse des Designer-Steroids von Balco ermöglichte. Ein Dutzend überführte Doper gehören zu dessen Athleten, unter ihnen Marion Jones und Tim Montgomery. Die erste Sperre Gatlins 2001 geht gleichwohl offenbar auf das Medikament Adderall zurück, das ihm wegen eines Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms zehn Jahre lang verschrieben wurde.
Die amerikanische Anti-Doping-Agentur unterstützte seinen Einspruch damals; die Sperre wurde auf ein Jahr verkürzt. Als er das zweite Mal aufflog, war er eindeutig gedopt.
Graham und er kamen im Verlauf des Verfahrens darauf, dass der Masseur Chris Whetstine ihn in böser Absicht mit Testosteron-Creme eingerieben habe – eine Ausrede, die nicht verfing. „Ich bin tot, ich bin tot. Es ist vorbei, es ist vorbei“, habe er nach dem positiven Befund gerufen, sagte seine Mutter als Zeugin des Verfahrens aus. Als früher einmal die Nachricht eines positiven Befundes kursierte – angeblich ein Aprilscherz –, griff Gatlins Vater angeblich zu seiner Pistole und wollte Graham erschießen.
Der Sohn erledigte seinen Trainer später anders. Er stimmte unter anderem der Telefonüberwachung seiner Gespräche mit Graham zu und schaffte es so, seine lebenslange Sperre wegen Kooperation mit den Doping-Bekämpfern auf zunächst acht Jahre zu verkürzen und diese weiter zu halbieren. Nun gibt er nicht den reuigen Sünder, sondern fordert selbstbewusst, als normaler Spitzenathlet behandelt zu werden. Interviews bricht er ab, wenn sie ihm unangenehm werden. „Medaillen werden nicht an jeden in der Welt verteilt“, sagt er. „Es gibt sie nur für einen Einzigen: den Champion.“
Ein Athlet wie er passt ins düstere Bild, das die Leichtathletik und ihre Sachwalter abgeben.
Manipulationen, systematisches Doping und schließlich Blutwerte, die die Analyse nahelegen, dass jeder dritte Medaillengewinner der vergangenen Jahre in den Ausdauersportarten irgendwann gedopt war. Aus einer Reihe von Gründen sei es für den Sport notwendig, dass Bolt in Peking Erfolg habe, sagte wenige Wochen vor seiner Wahl zum neuen Präsidenten der Leichtathletik-Welt Sebastian Coe. Und wurde nach seiner Wahl so deutlich, wie es ihm nur möglich war. „Nach allem, was ich gesagt habe, werde ich nicht hier sitzen und irgend etwas anderes behaupten, als dass es mir mulmig wird, wenn Athleten, die für ernsthafte Vergehen gesperrt waren, weitermachen und Titel gewinnen.“
Wenn denn das Ansehen dieses Sports ruiniert ist: Bolt bleibt davon unberührt.
Ricky Simms, der ihn und eine Reihe weiterer Top-Leichtathleten wie Doppel-Olympiasieger Mo Farah vertritt, antwortet auf die Frage nach den möglichen Folgen einer Leichtathletik-Krise jedenfalls: „Nein, mein Geschäft ist nicht beeinträchtigt.“
Der neue Präsident, Sebastian Coe, fügt er an, habe die Gelegenheit, den Sport in eine gute Zeit zu führen, in der die Medien über die Leistungen der Athleten sprechen wollen und nicht über anderes. Die Zukunft beginnt in Peking an diesem Sonntagnachmittag.
Michael Reinsch, Peking in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag dem 23. August 2015
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