Erinnerung an drei Maueropfer ©Erdmute Nieke
Dorit Schmiel wäre heute 76 Jahre alt … Gedanken über einen politischen Ultramarathon – 100 MEILEN BERLIN – Der sechste Mauerweglauf – von Dr. Erdmute Nieke
… Karl-Heinz Kube wäre heute 68 und Marienetta Jirkowski 55 Jahre. Dorit wurde aber nur 21 Jahre alt, Karl-Heinz 17 und Marienetta 18. Alle Drei hängen seit gestern zu Hause an meiner Wand.
Die Drei gehören zu den 138 Menschen, die an der Berliner Mauer von Grenzsoldaten der DDR erschossen wurden.
Insider wissen jetzt, dass ich drei Mal am Berliner Mauerweglauf teilgenommen habe. Ein politischer Ultramarathon, der von der Laufgemeinschaft Mauerweg 2011 zum 50. Jahrestag der Mauerbaus ins Leben gerufen wurde und immer am Wochenende um den 13. August statt findet.
Jedes Jahr steht ein anderes Maueropfer im Mittelpunkt des Laufes. Am Ort des Geschehens gibt es für die Läufer*innen einen Gedenkmoment und auf der Startnummer und auf der Medaille, die jede*r Finisher erhält, ist das Porträt dieses Menschen.
Der Berliner Mauerradweg, der zum großen Teil auf dem ehemaligen Postenweg zwischen dem sogenannten Freund- und Feindzaun verläuft, ist ca. 161 km lang und beliebt bei Touristen, Radlerinnen, Skaterinnen und auch Läufern. Dass dieser Weg existiert, danken wir dem unermüdlichen Einsatz des ADFC, dem Berliner GRÜNEN-Europa-Abgeordneten Michael Cramer und letztendlich dem Berliner Senat, der bis 2006 den Mauerradweg ausgebaut und beschildert hat.
Alexander von Uleniecki, der Pressesprecher des Veranstalters, hat gestern bei der Siegerehrung gesagt, dass der Lauf an die deutsch-deutsche Geschichte erinnert und erinnern soll. Das Konzept funktioniert!
Der Mauerweglauf – das sind drei besondere Tage im August. Vorab: Der Lauf ist nicht nur für Ultraläufer*innen. Die 161 km Berliner Mauer kann ich auch mit einer Zweier- (70/90 km), einer Vierer- (34, 37, 32 und 58 km) oder einer Zehnerstaffel absolvieren.
In diesem Jahr war ich Startläuferin in einer Viererstaffel, nachdem ich in den zwei vergangen Jahren in einer Zehnerstaffel mitgelaufen bin. Gefunden haben wir uns immer beim Lauftreff Bernd Hübner. Der Mauerweglauf beginnt am Freitag mit einer riesigen und absolut schmackhaften und vielseitigen Pastaparty und einem Pflichtbriefing im Hotel H4 am Alexanderplatz.
Sonnabend um 6 Uhr starten die Einzelläufer*innen, in diesem Jahr 375 und um 7 Uhr die Staffeln im Jahn-Sport-Park im Prenzlauer Berg. Zielschluss ist am Sonntag, um 10 Uhr für die Staffeln und um 12 Uhr für die Einzelläufer*innen. Es folgt eine feierliche Siegerehrung wieder im H4 Hotel, die dem Motto „Jeder, der das Ziel erreicht, ist ein Sieger!" gerecht wird.
Die Organisation durch die Laufgemeinschaft Mauerweg ist absolut beeindruckend: 400 Helfer*innen, 27 Versorgungsstände, vier Dropbagstationen, 161 km Wegmarkierung, vier Kampfrichter*innen, Rennarzt, Besenläufer*innen, eine gedruckte Karte und ein Mauerstück für jede*n Läufer*in, Finishershirt mit Motiven von Künstlern der East-Side-Gallery, Zusammenarbeit mit der Mauergedenkstätte, Schirmherr Rainer Eppelmann, internationale Botschafter, Betreuung von 1000 Läufer*innen…!!!!
Danke an die Mauerwegläufer*innen für diese umfassende und tolle Organisation!
Denn es bleibt unterwegs viel Zeit zum Nachdenken und Reden über FRÜHER. Schon von weitem sehe ich – trotz Nieselregen bei km 10 in Rosenthal – Märkisches Viertel die Kübel mit roten Rosen und muss noch schnell den aufkommenden Klos im Hals weglaufen.
Dann eine Rose nehmen und an die Stele für Dorit Schmiel legen.
Beim meinem dritten Mauerlauf darf ich zum ersten Mal die Stelle des Maueropfergedenkens passieren: ‚Dorit – oder Dorle – Dein Tod war nicht umsonst – Wir laufen hier heute international und in Freiheit – DENNOCH – Du warst erst 21 und wolltest einfach nur Freiheit – Bauchschuss – Sterben im Volkspolizeikrankenhaus – das, statt einem Wiedersehen mit den Freunden hinter dieser grausam trennenden Mauer – diese Mauer, die noch kein kein Jahr alt ist – grauer Alltag in Pankow – auch ich habe wie Du in der DDR Schneiderin gelernt – Mangelwirtschaft – Sehnsucht nach bunten Stoffen und Materialien, die aus dem Westen manchmal über die Mauer kamen – Wirtschaftswunder oder Fünf-Jahres-Plan der sozialistischen Planwirtschaft – die Welt besteht nur noch aus einer östlichen Hälfte – Ideologie satt – Staatsbürgerkunde und Marxismus-Leninismus – 27 Jahre nach Deinem Tod hatte auch ich den Mut gegen die Verhältnisse zu demonstrieren – Mauerfall – Wiedervereinigung im Großen und im Kleinen – Aufbruch zu Neuem!‘ All diese Gedanken schwirren mit durch den Kopf auf den nächsten 23 Kilometern bis zu meinem Wechselpunkt in Hennigsdorf.
Am Abend begleite ich unsere Schlussläuferin 58 km auf dem Fahrrad: Unsere Gespräche – wir sind ein Jahrgang, geboren in Kassel und Dresden – haben ein großes Thema und das liegt eindeutig an dieser besonderen Strecke: Wie war unser Kindheit in Ost und West, die Angst – die uns eingeredet wurde – vor den bösen Kommunisten und den bösen Kapitalisten. Es ist Geschichte, so persönlich, und doch ein kleiner Teil der großen Geschichte und alle diese Gedanken beim Laufen. Wir passieren das Brandenburger Tor und den Bundestag. Orte, die symbolträchtig für die deutsch-deutsche Geschichte sind.
Bei all dieser Freude über unsere Freiheit denke ich beim Laufen auch an die Menschen, die heute für Freiheit im Gefängnis sind. Stellvertretend seien zwei genannt: Der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner und der Journalist Deniz Yüzel, die beide noch immer im Gefängnis in Istanbul sitzen müssen oder auch an die Menschen, die heute Freiheit, Frieden und Sicherheit suchen und vor Diktatur, Hunger und Krieg fliehen und dabei im Mittelmeer ertrinken.
Die Beine und die Gedanken laufen und laufen und der Mauerweglauf 2017 ist Geschichte. Auf der Seite der Veranstalter ist heute folgendes zu lesen:
„Der Niederländer Jan-Albert Lantink hat die sechste Auflage des Berliner Mauerweglaufs gewonnen. Der 59-Jährige aus Hengelo benötigte für die gut 161 Kilometer lange Runde um das westliche Berlin 13:39:56 Stunden. Das war die bisher zweitbeste Zeit, die jemals bei einem Mauerweglauf gelaufen wurde.
Der zweite Platz ging an den Lokalmatadoren Sascha Dehling von der LG Mauerweg Berlin in einer Zeit von 14:37:35 Stunden. Hinter dem Deutschen 100km-Mannschaftsmeister kam Patrick Hösl von der LG Ultralauf ins Ziel im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark (14:40:41 Stunden).
Der Sieg bei den Frauen ging an Katrin Grieger aus Hamburg in 17:20:20. Antje Müller (LFV Oberholz) wurde Zweite in 17:50:34 Stunden.
Als Dritte erreichte Kerstin Schumann (Powerbärs Rednitzhembach) in 19:25:04 das Ziel." https://100meilen.de/ (eingesehen 14.8.2017)
Was bleibt?
2018 will ich wieder dabei sein! An 132 Menschen kann auf diese besondere Weise noch erinnert werden! Mögen wir alle dafür Sorge tragen, dass die Mauern auf der ganzen Welt verschwinden und zu gemeinsamen Wegen werden!
Dr. Erdmute Nieke
100 Meilen Berlin – Berliner Mauerweglauf
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