Michael Reinsch - Doping-Opfer-Hilfe: „Es reißt die Leute weg“ ©Horst Milde
Doping-Opfer-Hilfe: „Es reißt die Leute weg“ – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Sie bekannte, dass sie sich kaum behandeln lassen könne, da ihr Trauma sich unter anderem in rasender Angst vor Ärzten ausdrückte. Bezahlen könnte sie die Therapie ohnehin nicht. Eine Frau, die am Rand des Lebens balancierte. „Ihre Seele war zertrampelt worden“, erinnert sich Eva-Maria Otte. „Ich dachte: Sie ist verloren. Ich habe mir die ganze Zeit das Heulen weggebissen.“
Heute führt Eva-Maria Otte solche Gespräche allein. Die Leitung zu ihrem schnurlosen Telefon in der Beratungsstelle der Doping-Opfer-Hilfe bildet so etwas wie ein Rettungsseil für Menschen, die der Sport, vornehmlich der DDR-Sport, auf das niederträchtigste um Jugend, Hoffnung, um das Leben betrogen hat.
An einem Schreibtisch in einem Winkel der Robert-Havemann-Gesellschaft im Hinterhaus der Schliemannstraße 23 in Prenzlauer Berg versucht sie von neun Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags unter der Berliner Nummer 44 71 08 26 denen zu helfen, die hilfesuchend anrufen. Es werden immer mehr.
Die Belastung der Helferinnen am Telefon nimmt zu. Manchmal habe sie Angst davor, dass sich jemand das Leben nehmen könnte, sagt Eva-Maria Otte. Selbst wenn sie jemanden davor bewahrt haben sollte, ist das nicht wirklich beruhigend.
Einer dankte ihr am Telefon mit den Worten: „Wenn wir gestern nicht gesprochen hätten, gäbe es mich heute nicht mehr.“
Die Frist für Anträge auf Zahlung von 10.500 Euro nach dem zweiten Doping-Opfer-Hilfegesetz läuft in weniger als sechs Wochen ab.
Nun hat der Bundestag reagiert und wird auf Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD voraussichtlich beschließen, sie um anderthalb Jahre bis zum 31. Dezember 2018 zu verlängern. Für die erwarteten tausend Antragssteller hat der Gesetzgeber 10,5 Millionen Euro bereitgestellt. Denn längst haben nicht alle Betroffenen realisiert, dass sie betroffen sind, und längst haben nicht alle, die einen Antrag stellen wollen, ihre Unterlagen und Atteste beisammen. Sie brauchen Hilfe. Da Staat und Sport sie ihnen nicht gewähren, sind die Doping-Opfer-Hilfe und Eva-Maria Otte die Einzigen, an die sie sich wenden können.
Noch dürfte allerdings unklar sein, wie es weitergeht. Die Havemann-Stiftung wird auf den neuen Campus der Demokratie in der einstigen Zentrale der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg ziehen; die Doping-Opfer-Hilfe an ihrem kleinen, von Akten und Kartons umstellten Schreibtisch soll im Juni raus. „Sobald die Havemänner packen“, sagt Eva-Maria Otte, „können wir nur noch im Treppenhaus telefonieren.“ Sobald der Umzug vollendet ist, steht sie erst einmal auf der Straße.
Bis zu ihrer Pensionierung war die schlanke Frau mit den kurzen blonden Haaren Professorin an der Ernst-Busch-Hochschule für Schauspielkunst. „Bewegung, das ist das Gegenteil von Sport“, sagt sie über den Fachbereich, den sie leitete. An der Hochschule lernte sie Ines Geipel kennen, die ehemalige Sprinterin aus Jena und heutige Schriftstellerin, die seit den Doping-Prozessen zur Jahrtausendwende den Geschädigten und Betrogenen des DDR-Sports Stimme und Gesicht gegeben hat und dem Doping-Opfer-Hilfe-Verein vorsitzt.
Drei, vier Erstkontakte gibt es täglich
Sie bat immer dringender um Unterstützung, vor allem, weil Sport und Staat das Thema für erledigt halten. Als eine Helferin, selbst Doping-Opfer, unter der Last der Anrufe und der tragischen Fälle nicht weitermachen konnte, sagte Eva-Maria Otte zu.
Abwechselnd mit der Dozentin und ehemaligen Kollegin Suzann Bolick ist sie nun diejenige, die ans Telefon bekommt, wer anruft.
„Als DDR-Mensch habe ich das Thema Doping so gut wie nicht mitgekriegt“, sagt sie. „Die Schwimmerinnen mit den tiefen Stimmen fand ich ein bisschen peinlich, aber ich habe nicht drüber nachgedacht.“ Überrascht ist sie von der Dimension des Missbrauchs dennoch nicht.
„Von Sport wusste ich zwar nichts. Aber ich weiß, dass der Sport Teil des Gesamtsystems DDR war. Wenn es auf einem Gebiet einen geheimen Staatsplan gab, wie im Sport, dann war in so einer Diktatur alles möglich.“
Aussprache braucht sie täglich. Dann ruft sie Ines Geipel an. „Ich muss mit ihr telefonieren“, sagt sie, „sonst kriege ich einen Knall.“ Eva-Maria Otte kann nicht, wie professionelle Seelsorger und Psychologen das versuchen, die Fälle hinter sich lassen, wenn sie am Abend die Tür des Büros schließt. „Ich nehme die Geschichten mit nach Hause. Ich bin eben kein Profi.“ Am wenigsten denkt sie an sich selbst, wenn sie fordert, dass eigentlich ein professioneller Psychologe an ihrer Stelle sitzen müsste, nicht als Mini-Jobber, sondern gut bezahlt.
Drei, vier Erstkontakte, wie sie sagt, gibt es derzeit täglich. Dazu kommt der Beratungsbedarf derjenigen, die sich auf den schmerzhaften Weg zu sich selbst und zur Anerkennung als Opfer des DDR-Sports gemacht haben.
Oft reiche eine Nachfrage, um aufplatzen zu lassen, was Jahre versteckt war, verkapselt und schwärend wie ein Furunkel. „Es reißt die Leute weg“, erlebt die Beraterin. „Wir sind eigentlich permanent überfordert.“ Eine Betroffene musste sich vor kurzem übergeben, als sie im Büro schilderte, was ihr als Mädchen widerfuhr.
Die krassesten Fälle sind die, in denen die Eltern den Missbrauch bis heute gutheißen.
Eva-Maria Otte kennt einige, in denen die Betroffenen zerrissen sind zwischen Erkenntnis der Schuld und familiärer Loyalität. Schlimmer noch erscheinen die Fälle, in denen Kinder geschädigt zur Welt kommen. Sie fragen eines Tages, so erlebt es die Helferin, ob der Umstand, dass sie so seien, wie sie sind, irgendetwas damit zu tun habe, dass ihre Mutter zu Zeiten der DDR Leistungssport getrieben habe.
Auch 2037 wird es neue Doping-Opfer geben
130 Doping-Opfer der zweiten Generation haben sich gemeldet, weil eine Schädigung nur akzeptiert wird für Kinder, mit denen die Mutter schwanger ging, während sie gedopt wurde – als gäbe es keine bleibende Schädigung. Die Dimension der Verletzungen auf der einen und der Ahnungs- wie der Skrupellosigkeit auf der anderen Seite lässt die Helferin das Schlimmste befürchten. „Wer heute wissentlich und auf eigene Initiative dopt“, sagt Eva-Maria Otte, „hat keinen Schimmer, was ihn in zwanzig Jahren erwartet.“ Auch 2037 wird es neue Doping-Opfer geben.
Doch nicht einmal für die Opfer der offenkundigen Verbrechen, die der Sport an unschuldigen, unwissenden Kindern sowie Jugendlichen begangen hat, gibt es Hilfe vom Sport. Man könne sie nicht wegschmeißen, sagt Eva-Maria Otte, indem man einen Schlussstrich ziehe. „Soll ich ihnen sagen: Du bist Vergangenheit, du passt nicht in die Gegenwart?“
Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 17. Mai 2017
Nun doch: Politik verlängert wohl Frist für Doping-Opfer:
Die Frist für Anträge nach dem zweiten Doping-Opfer-Hilfe-Gesetz wird um anderthalb Jahre bis zum 31. Dezember 2018 verlängert. Das wird der Bundestag voraussichtlich an diesem Donnerstag auf Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD beschließen. Das machte in Berlin der sportpolitische Sprecher der Fraktion, Eberhard Gienger, bekannt. Dies sei ein Gebot der Menschlichkeit, sagte er.
Die Politik folgt damit der Bitte des Vereins Doping-Opfer-Hilfe (DOH), der warnt, dass viele Geschädigte des Dopings im DDR-Sport die derzeitige Frist, Ende Juni, nicht einhalten könnten; täglich meldeten sich neue Geschädigte. Der Gesetzgeber hat für die erwarteten tausend Antragsteller 10,5 Millionen Euro bereitgestellt; der Deutsche Olympische Sportbund hat sich nicht an dem Fonds beteiligt.
Die Doping-Opfer-Hilfe prognostiziert fünftausend Anträge. Das Bundesinnenministerium unterstützt die Beratungsstelle der DOH seit 2014 mit jährlich 30.000 Euro und beteiligt sich an der Suche nach einer Unterbringung der Einrichtung. (mr)