Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - Doping-Kronzeugin Stepanowa In einer anderen Welt ©privat
Doping-Kronzeugin Stepanowa In einer anderen Welt – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
„Jetzt bin ich glücklich.“ Julia Stepanowa, türkisfarbenes Trikot, Pferdeschwanz, Startnummer 600, tritt von der Laufbahn. Endlich zurück. Es ist Samstag Abend, und die 28 Jahre alte Russin ist bei der norddeutschen Meisterschaft in Berlin das erste Rennen ihres neuen Lebens gerannt.
Sie hat sich aufgemacht, noch einmal von vorn zu beginnen – sauber. Mit einigem Talent sowie der Hilfe von Epo und Testosteron war das Mädchen aus Kursk nahe der ukrainischen Grenze in die russische Nationalmannschaft gestürmt. Eine normale Karriere.
Vor zwei Jahren flog sie auf: auffällige Blutwerte, zwei Jahre Sperre. Unterstützt von Witali, ihrem Mann, blieb sie der russischen Leichtathletik zum Schein treu, beschaffte Beweise für systematisches Doping. Sie belegte mit heimlichen Ton- und Filmaufnahmen die Beteiligung von Cheftrainer, Chefarzt und Chef-Doping-Kontrolleur. Sie informierte die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada). Sie wurde Kronzeugin einer Fernsehreportage über die ungeheuerliche Dimension des Betruges.
„Ich erwarte Änderungen in Russland“
Auch deshalb ist das russische Lügengebäude erschüttert; am Wochenende wurden der langen Liste überführter Doper die Hindernis-Olympiasiegerin von London 2012, Julia Zaripowa, wie die Siebenkämpferin Tatjana Tschernowa, Dritte von London, hinzugefügt und gesperrt. „Ich erwarte Änderungen in Russland“, sagt Julia Stepanowa in Berlin. „Was derzeit passiert, ist Show.“
Dafür spricht, dass die russische Anti-Doping-Agentur Rusada, in deren Verwicklung in das Doping-System Witali Stepanow tiefe Einblicke gewann, als er für sie arbeitete, die Sperre von Zaripowa so gelegt hat, dass sie Weltmeisterin von Daegu 2011 bleiben und bei den Olympischen Spielen von Rio 2016 schon wieder starten kann.
Julia Stepanowa dagegen blickt in eine ungewisse Zukunft. Mit Mann und Kind musste sie Moskau verlassen, in Sorge um ihre Sicherheit. In Berlin versucht die Familie einen Neubeginn. „Viele Athleten in Russland glauben an Doping“, resümiert die Läuferin beim Comeback. Im Rennen über 1500 Meter bleibt sie zwanzig Sekunden über ihrer Bestzeit, wird in 4:26,30 Minuten, außer Konkurrenz, Zweite.
Am Sonntag siegt sie über 800 Meter in 2:07,04, neun Sekunden über der Bestzeit der alten Julia Stepanowa (1:58,14). „Ich will ohne Doping schnell laufen“, beteuert sie.
Johanna Schulz ist, am Samstag, vor allem erleichtert. Eine Viertelstunde vor dem Lauf hat sie erfahren, dass Julia Stepanowa teilnehmen wird. „Ich war erst mal erschrocken“, sagt sie anschließend, nach ihrem Sieg in 4:25,60 Minuten. Bei aller Wertschätzung für die mutige Aufklärerin: Julia Stepanowa kommt aus dem Doping-Sumpf. „Ich bin hin- und hergerissen“, sagt die Studentin. Johanna Schulz macht kein Hehl daraus, wie sie mit sich ringt. „Ist okay, dass sie mitlaufen durfte“, sagt sie schließlich.
Aber vielleicht, lässt sie nachdenklich folgen, sehe sie das nur so, weil sie gewonnen habe. Welch anderes Bild am Tag darauf: Beim Einlaufen kommen beide ins Gespräch. Julia Stepanowa führt vom Start weg, Johanna Schulz bleibt als Zweite zurück, aber ohne Bitterkeit. „Ich finde sehr mutig, was sie sich getraut hat. Sie hat eine zweite Chance verdient.“
Mit Überlegungen anderer über ihr Comeback hat sich Julia Stepanowa noch nicht beschäftigen können. Ihr Englisch ist rudimentär, in ihrer Wohnung in Berlin-Hohenschönhausen kleben an Schränken und Türen Zettel mit deutschen Vokabeln. Seit Anfang des Jahres ist sie Mitglied des LAC Olympia 88 Berlin. Beim Training ist sie fast allein mit ihrem Mann und ihrem Trainer André Höhne.
Tränen in den Augen
Höhne, 35 Jahre alt, saß mit Tränen in den Augen vor dem Fernseher, als im Dezember die Doping-Reportage lief. Er war einer der besten Geher Deutschlands und dürfte – bei mehr als zwanzig überführten Russen allein in seiner Disziplin – zu den größten Opfern des Betruges gehören.
Stets forderte er, lebenslang zu sperren, wer manipulierte. Dann klopft ausgerechnet bei ihm eine konvertierte Doperin an. „Am Anfang habe ich mich schwergetan“, sagt er. Die beiden verständigen sich auf Russisch und Englisch, fürs Training reicht’s. Nicht aber für den Austausch ihrer beider Erfahrung mit dem Betrug. „Ich hebe das auf“, sagt Höhne, „für die Zeit, wenn sie gut Deutsch spricht.“
Die Zeit wird kommen. Julia und ihr Mann Witali sehen ihre Zukunft in Deutschland. Noch sucht er Arbeit, noch wird sie versuchen, als professionelle Läuferin die Familie zu ernähren. Ihre Herkunft ist eine Hypothek.
Nach intensiven Verhandlungen erteilte der Welt-Leichtathletikverband Julia Stepanowa nach Ablauf ihrer Sperre in der vergangenen Woche die Startfreigabe. Eigentlich sollte dies erst geschehen, sobald Prämien zurückgezahlt sind, die sie während ihrer Doping-Karriere gewann. Julia Stepanowa hätte nicht bei null, sondern mit einem Minus von knapp 20 000 Dollar angefangen. Sie beruft sich auf eine Ausnahmeregel, die Kronzeugen ermutigen soll.
Freitag Abend um halb zehn erhält sie die Freigabe. Kommendes Wochenende wird die neue Julia Stepanowa beim Sportfest in Luxemburg, ihrem dritten und letzten Start der Hallensaison, ihre Bestzeit zu verbessern versuchen. Darauf basiert ihre professionelle Karriere. Resultate zählen mehr als jede Verfehlung und jedes Verdienst um den Sport.
Was die neue Julia Stepanowa leisten kann, weiß sie nicht. Ihre Doping-Karriere begann als Teenagerin.
Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 2.02.2015
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