Blog
07
06
2009

Der Halleneuropameister: Bestleistung auf einen Schlag um 54 Zentimeter verbessert

Doping im Selbstversuch – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Sebastian Bayer: In der Verdachtzone gelandet

By GRR 0

04. Juni 2009 „Es gibt nur wenige, die gegen unsaubere Athleten bestehen können“, sagt der Trainer von Weitspringer Sebastian Bayer. „So einer ist Sebastian.“ Der 55 Jahre alte Joachim Schulz, Gymnasiallehrer für Mathematik und Sport in Aachen, weiß genauer als viele andere, wovon er spricht. An diesem Samstag kehrt er in seine Heimat Thüringen zurück, wo sein 23 Jahre alter Athlet in Bad Langensalza die Weltmeisterschaftssaison beginnt.

Schulz war bis zum Fall der Mauer Trainer bei Turbine Erfurt. Dort hat er Leichtathleten Dopingmittel verabreicht. Und er hat sie selbst ausprobiert.

Sebastian Bayer wusste, als er bei den Hallen-Europameisterschaften im März in Turin 8,71 Meter weit sprang, dass er in der Verdachtszone landen würde. Er habe immer geglaubt, 8,50 Meter sei das Maximum, das man ungedopt erreichen könne, sagte er Minuten nach seinem Sprung. Der Verdacht richte sich hoffentlich nicht gegen ihn. Nun wird deutlich, wie gut er Bescheid wissen muss über die Wirkung und die Nebenwirkungen von Doping.
 
Der Halleneuropameister: Bestleistung auf einen Schlag um 54 Zentimeter verbessert

„Ja, logisch“, antwortet Schulz auf die Frage, ob er als Trainer in der DDR mit Doping in Berührung gekommen sei. „Ja logisch, ich habe es auch verabreicht.“ Das habe er dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) gleich 1990, als er aus Erfurt an die niederländische Grenze gezogen war, unumwunden mitgeteilt. Vor gut drei Jahren, sagt Sebastian Bayer, habe Schulz ihn auf einer Autofahrt über die Gepflogenheiten im Hochleistungssport der DDR aufgeklärt. „Ich weiß, dass es von Staats wegen angeordnet wurde“, sagt er über Doping in dem Staat, der unterging, als er drei Jahre alt war. „Was früher passiert ist, ob in der BRD oder in der DDR, ist passiert. Das Thema ist abgeschlossen. Heute ist eine andere Zeit.“

Vorzeitig hatte der Sportclub Turbine Erfurt 1983 den jungen Trainer, der damals Joachim Jünemann hieß, von der Hochschule geholt und ihm eine Hochsprung-Gruppe anvertraut. Auf die Frage, warum sie trotz hervorragender Vorleistungen so schlecht springe, antwortete eine seiner Athletinnen: „Wegen der Blauen.“ Bald hielt der Trainer die entsprechenden Tabletten in der Hand. Der Sportarzt, der das Oral-Turinabol aus der Originalverpackung des VEB Jenapharm in anonyme Plastikdosen gedrückt und ausgegeben hatte, so erinnert sich Schulz, hatte keine Ahnung, sondern lediglich Anweisungen aus Berlin.
 
Deshalb fuhr der neugierige Trainer zu seinem Schwager nach Gera, einem Arzt in der Unfallchirurgie. „Der hat mir erst mal erklärt, was die nehmen“, erinnert sich Schulz. Den Trainern sei genauso wie den Athleten die Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen verweigert worden. Er habe es übernommen, seinen Sportlerinnen die Wirkung männlicher Sexualhormone zu erklären.

Der Trainer schritt zum Selbstversuch

In den „Doping-Dokumenten“ von Brigitte Berendonk und Werner Franke, dem Standardwerk zum Doping in der DDR, kommt Jungtrainer Jünemann nicht vor. „Ein kleines Licht“, sagt Franke. Doch eines, das auf eigene Faust erhellen wollte, was da vor sich ging. Der Trainer schritt zum Selbstversuch und schluckte die Anabolika seiner Hochspringerin: eine Tablette mit fünf Milligramm Testosteron pro Tag, drei Wochen lang. „Als Mann passiert einem ja nichts, solange man nicht übertreibt“, sagt er.

Die verhältnismäßig geringe Dosierung hatte eindrucksvolle Folgen. Schulz konnte am Ende des Zyklus aus der Kniebeuge zehn Kilo mehr heben als vorher, und er weiß noch genau, dass er seine Sprintzeit über 30 Meter fliegend von 3,25 auf 3,08 Sekunden verbesserte. Es war dasselbe wie Doping, aber doch keines: Der Mann war nicht Sportler, sondern Trainer.
 
Viele Rekorde und Bestleistungen sieht Schulz seitdem mit anderen Augen. „Bei manchen Entwicklungssprüngen wird mir schlecht“, ruft er aus. „Diejenigen tun mir leid, die von solchen Sportlern betrogen werden.“ Man brauche keine eigene Erfahrung mit Doping. Jeder Trainer erkenne, wenn ungeniert gedopt werde.

„So ein Ding hätte ich nicht unterschrieben“

Die Erklärung, die der DLV von fünf Bundestrainern mit Vergangenheit im DDR-Sport akzeptiert hat – das Eingeständnis, in einem Dopingsystem mitgewirkt zu haben –, nennt Schulz einen Schritt nach vorn, allerdings zu spät. „Das hätte Cheftrainer Bernd Schubert schon in den neunziger Jahren klären können“, wirft er dem Verband vor; schließlich kam auch Schubert aus der DDR. Die Erklärung, niemals mit Doping zu tun gehabt zu haben, wie sie der Deutsche Olympische Sportbund vor den Olympischen Spielen 2008 verlangte, nennt Schulz eine Dummheit. „So ein Ding hätte ich nicht unterschrieben“, sagt er. „Dann wäre ich eben nicht nach Peking gefahren.“ Schulz reist international nicht auf deutschem Ticket, sondern auf dem des niederländischen Leichtathletikverbandes, für den er die Zehnkämpfer trainiert.
Bayer mit Schulz: „Letztlich ist jeder Athlet für sich verantwortlich“

Bayer mit Schulz: „Letztlich ist jeder Athlet für sich verantwortlich“

In der Debatte um die Verantwortung für Doping-Schäden sieht Schulz nicht nur die Trainer in der Pflicht. In der Leichtathletik seien, anders als im Schwimmen, nicht Kinder gedopt worden, sagt er. „Der Ehrgeiz liegt auch beim Sportler. Das macht nicht der Trainer allein.“ Vor allem aber will er fehlende und mangelhafte Aufklärung nicht gelten lassen: „Eine Frau merkt sofort die Nebenwirkungen.“ Wo Schäden entstanden seien, müssten alle Grenzen überschritten worden sein. So sieht es auch Sebastian Bayer: „Letztlich ist jeder Athlet für sich verantwortlich.“

Er sei froh, dass heute viel und streng auf Doping kontrolliert werde, sagt Schulz. Darauf müsse man sich, bei allen Mängeln, verlassen. Und wenn Bayer sich frage, woher da wieder mal ein Weitspringer geflogen komme, rate er ihm: „Beschäftige dich nicht mit dem Thema!“ Vielleicht verdächtigten manche auch Bayer, sagt Schulz. Schließlich hat dieser seine Bestleistung in Turin auf einen Schlag um 54 Zentimeter verbessert. Er ahnt nicht, dass Doping-Experte Franke in Heidelberg versichert, er habe keinen Zweifel an der Sauberkeit des Weitspringers. Schulz jedenfalls versichert:

„Ich weiß, dass Sebastian absolut sauber ist und es immer sein wird. Und er wird noch deutlich über 8,50 Meter springen.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 4. Juni 2009

author: GRR

Comment
0

Leave a reply