Die Leichtathletik steht vor ungewissen Zeiten. ©IAAF
DLV-Präsident im Gespräch – „Olympia-Vergabe soll überprüft werden“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der Weltverband der Leichtathleten war jahrelang in der Hand einer kriminellen Bande, ihr Boss war Präsident Lamine Diack. Sie verschleppte die Resultate von Doping-Kontrollen und erpresste Athleten.
Sind Sie überrascht, dass die IAAF nicht ausgeschlossen worden ist vom Weltsport?
Ich bin überrascht vom Ausmaß der kriminellen Energie. Das ist, was die bekannten Fakten betrifft, beispiellos im internationalen Sport und übertrifft wohl auch die FIFA, weil hier sogar in den sportlichen Wettbewerb eingegriffen wurde. Dass es keine Sanktionen gab, hängt wohl damit zusammen, dass alle handelnden Personen ausgeschieden sind und es eine personelle Erneuerung an der Spitze gegeben hat. Aber ich habe auch keine Anhaltspunkte, dass ein solcher Ausschluss erwogen wurde.
Richard Pound hat Sebastian Coe, dem neuen Präsidenten der IAAF, geradezu Kränze geflochten. Ist Coe der einzige, der die Leichtathletik retten kann?
Sebastian Coe ist sicher eine außergewöhnliche Persönlichkeit mit vielen Fähigkeiten. Er hat die Chance, das Vermögen und den Willen zur Reform. Aber zu behaupten, wenn er es nicht schaffe, breche alles zusammen, wäre eine Überhöhung, die nicht sachgerecht ist. Für einen Verband wäre es schlimm, wenn er sich abhängig machte von einem Heilsbringer.
Was sagen Sie zu dem Widerspruch zwischen dem Bericht der Unabhängigen Kommission und dem, was ihr Vorsitzender Pound gesagt hat?
Den Mitgliedern des Councils unterstellt er, dass sie Kenntnis von den Missständen hätten. Coe glaubt er, dass er nichts gewusst hat. Coe ist seit 2003 Mitglied im Council. Eine der beiden Feststellungen kann also nicht zutreffen. Was einzelne gewusst oder nicht gewusst haben, verschließt sich der Bewertung durch mich. Ich war ja nicht dabei.
Coe war vor seiner Wahl acht Jahre lang Vizepräsident …
Wenn über all die Jahre niemand etwas gewusst hat, muss man aber fragen, wie das Council zulassen konnte, dass Diack in der IAAF schalten und walten konnte, wie er wollte. Und in welcher Rolle sich die Mitglieder des Councils sahen.
Ist Sebastian Coe gestärkt worden?
Wenn man die Äußerungen von Pound vom Donnerstag zugrunde legt, ist er gestärkt worden. Wenn man die Interpretation mancher Medien zugrunde legt, ist er weiter unter starkem Druck.
Der Bericht der Unabhängigen Kommission stützt die Behauptung der IAAF, dass sich tapfere Mitarbeiter im Apparat gegen die Machenschaften gewehrt hätten, insbesondere Verbandsjurist Huw Roberts. Haben Sie das bemerkt?
Als ich nach dem Verbleib von Personen fragte, die ich im Rahmen meiner Tätigkeit kannte …
… nach Gabriel Dollé, dem korrupten Leiter der Anti-Doping-Abteilung …
… wurde mir mitgeteilt, dass er aufgrund seines Alters ausgeschieden sei. Zu Roberts hieß es, er habe sich beruflich umorientiert. Mir gegenüber haben Mitarbeiter der IAAF nie mitgeteilt, dass es interne Auseinandersetzungen gibt. Informell hätten sie das schon tun können.
Lamine Diack stand seit Jahren in dem Ruf, Stimmen aus Afrika zu bündeln, und er stand in dem Ruch, dafür die Hand aufzuhalten.
Belastbare Fakten für Korruption lagen mir nicht vor. Was ich mitbekommen habe, war, dass der Sohn, Papa Massata, für die IAAF im Marketing tätig war. Ich habe als problematisch empfunden, dass Provisionen aus Geschäften der IAAF in die Familie des Präsidenten flossen.
Sie haben bei der WM 2009 intensiv mit Diack zu tun gehabt. Welches sind Ihre Erfahrungen?
Ich habe feststellen können, dass Lamine Diack eine große Zahl von Freunden hat, die alle eingeladen waren, nach Berlin zu kommen.
Bei freiem Eintritt und kostenloser Unterkunft?
Das vermute ich. Aber wir hatten eine besondere Situation. Berlin war praktisch der einzige Bewerber gewesen.
Sie erwähnen das als Hinweis darauf, dass Berlin nichts zahlen musste?
Genau. Von Anfang an waren der Regierende Bürgermeister Wowereit und ich uns einig, dass die Bewerbung auf keinen Fall auch nur in die Nähe des Geruchs von Korruption kommen darf. Ich muss sagen: Wir sind nie mit einem solchen Ansinnen konfrontiert gewesen.
Ist die IAAF zu retten?
Ich glaube, dass Coe den festen Willen hat, Reformen einzuleiten. Der Schaden ist aber so groß, dass er dies nicht allein dem Council überlassen sollte, zumal dessen Zusammensetzung weitgehend identisch ist mit früheren Councils. Die Situation fordert alle Mitgliedsverbände. Ich würde mir wünschen, dass die Konsequenzen aus den skandalösen Vorgängen auf einem Kongress erörtert werden und dass alle Mitgliedsverbände sich bei den Reformen einbringen können.
Böte dies die Gelegenheit, das Prinzip „one country, one vote“ zu überwinden, das die Blatterisierung, die Befriedigung von Partikularinteressen bis hin zur Korruption erst ermöglicht?
Theoretisch ja. Praktisch halte ich für unmöglich, dass Mitgliedsverbände auf Rechte verzichten und auch noch aktiv an diesem Verzicht mitwirken. Wichtig ist, dass nicht mehr alle Mitglieder des Councils auf der Vollversammlung, dem Kongress, gewählt werden, sondern dass die Kontinentalverbände Delegierte entsenden.
Damit würde der Zuschnitt der Macht auf einen einzelnen, den Präsidenten, beschränkt. Bisher konnte er etwa mit afrikanischen Stimmen steuern, wen aus Europa er im Council hat und wen nicht. Um die politische Steuerung durch Geld zu verhindern, ist absolute Transparenz notwendig. Es muss für alle Mitgliedsverbände nachvollziehbar sein, wohin welche Zuwendungen gehen.
Viele Erkenntnisse der Wada-Ermittler werden als Spitze des Eisberges beschrieben. Da verbirgt sich noch mehr unter der Oberfläche. Was ist die Konsequenz?
Die Hinweise sind so konkret, dass akuter Handlungsbedarf besteht. Es liegen so viele Anhaltspunkte dafür vor, dass auch andere Länder als Russland strukturell ein Dopingproblem haben, dass man nicht achselzuckend zur Tagesordnung übergehen kann. Die Vergabe der Leichtathletik-Weltmeisterschaften nach Doha und nach Eugene sollte eine externe Kommission überprüfen und entscheiden, ob eine neue Vergabe notwendig ist. Dies gilt auch für die Vergabe der Olympischen Spiele, wenn es Beweise dafür gibt, dass mittels eines Sponsor-Vertrages mit Diack und der IAAF für Stimmen gezahlt wurde.
Das IOC wird sicherlich den Hinweisen nachgehen. Ich bin überrascht, dass in Russland allein die Leichtathletik im Fokus der Untersuchung steht. Wenn man von einer Systematik des Dopings ausgeht, wenn das Kontrolllabor und wenn die Anti-Doping-Agentur in Russland Doping vertuscht haben, ist nicht vorstellbar, dass dies auf eine einzige Sportart beschränkt war. Dies sollte bald aufgeklärt werden.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 16. Januar 2016
Auszug aus dem Report der Wada:
„Nachdem er sie wochenlang erpresst hatte (und auf ihre Kosten einige Male in Luxushotels in Istanbul gereist war) und die IAAF sie dann doch wegen Dopings sperrte, schickte Khaled Diack, der andere Sohn des IAAF-Präsidenten, der türkischen Olympiasiegerin über 1500 Meter Alptekin ein SMS: „Es gibt keine Gerechtigkeit.“