Macht Laufen also nur bis Kilometer 70 glücklich? Das Glücksgefühl habe ich eher in der Vorbereitung. Das muss ich nicht auch noch beim Lauf selbst haben.
Dieter Baumann – \“Ich konnte nicht mal ein Zischbier trinken\“ (nach dem Bieler Hunderter) – Friedhard Teuffel im Tagesspiegel
Olympiasieger Dieter Baumann spricht im Interview über das härteste Rennen seines Lebens und darüber, wann Laufen noch glücklich macht.
Herr Baumann, Sie kommen gerade von Ihrem ersten 100-Kilometer-Lauf aus Biel in der Schweiz zurück. Wo liegt eigentlich der Lustgewinn, 100 Kilometer zu laufen?
Oh Gott, ich glaube es geht nicht um Lust. Es war das härteste Rennen, das ich je gemacht habe. Ich habe zwei Bekannte getroffen, die mir sagten, sie hätten beim Zieleinlauf das Feuer in meinen Augen gesehen. Ich glaube eher, dass man in meinem Blick gar nix mehr erkennen konnte.
Wenn es nicht Lust war und nach 9:45 Stunden auch kein Feuer mehr, was war es dann?
Für einen Langstreckenläufer ist Biel die Nacht der Nächte.
Sie wollten einen Haken dran machen?
Ich bin kein Sammler, sondern Läufer. Aber es gibt ein Buch aus den 70er Jahren des Laufpioniers Werner Sonntag mit dem Titel: „Irgendwann musst du nach Biel". Am Anfang dachte ich noch, er ist ein Spinner. Aber im Laufe der Jahre ist es auch für mich ein Lockruf geworden.
Und welche Bilder hatten Sie vorher von diesem Lauf im Kopf?
Eigentlich die falschen. Die von einer lauen Sommernacht, ich hatte auch schon den Heuduft in der Nase. War leider völliger Unsinn. Die ersten 50 Kilometer hat es in Strömen geregnet, ständig bin ich in eine Pfütze gestapft.
Was war denn Ihr längster Lauf bisher?
84 Kilometer. Die bin ich mal einfach so für mich gelaufen, als Landschaftslauf von Tübingen nach Blaubeuren, habe also meinen Wohnort und meinen Geburtsort miteinander verbunden. Bis 60 Kilometer war es wunderschön, nach 70 war der Ofen aus, da habe ich mich durchgekämpft.
Macht Laufen also nur bis Kilometer 70 glücklich?
Das Glücksgefühl habe ich eher in der Vorbereitung. Das muss ich nicht auch noch beim Lauf selbst haben. Die Vorbereitung ist wahnsinnig spannend, sie ist ein ständiges Probieren, gerade wenn man auf einen Tag X zuläuft.
Wie sah denn Ihre Vorbereitung aus?
Ich laufe jeden Tag. Auf Biel habe ich mich drei Monate lang vorbereitet. Mit Läufen in ganz verschiedenen Tempos.
Haben Sie sich in Biel gefühlt wie beim Laufen in ein neues Land, weil bisher bei Kilometer 84 für Sie Schluss war?
So kann man es sagen. Bis Kilometer 70 war mir vieles klar. Danach bin ich tatsächlich eingebrochen. Ich hatte mir auch einen Plan B, C, D für das Rennen gemacht. Irgendwann bin ich bei Plan X angekommen. Die Strecke war sehr überraschend, sehr hügelig, es gab viel Wald. Ich laufe oft in der Nacht, aber dies war eine andere Nacht, weil es auch noch Wolken gab, es war stockdunkel. Eine völlig neue Lauferfahrung.
Eine Grenzerfahrung?
Grenzerfahrung ist der Mount Everest, wenn man sich da hinsetzt und nicht weitergeht, kann das böse Folgen haben. Aber bei uns? Wir Läufer stoßen in Grenzbereiche vor, aber es passiert nichts, es hat keine Konsequenz. Biel findet im Kopf statt, das habe ich gemerkt. Man muss reagieren. Bei 70 Kilometern bin ich etwa zehn Minuten gegangen, habe getrunken, gegessen, dann ging es sofort besser, ich habe schnell wieder meinen Rhythmus gefunden. Aber danach musste ich nochmal gehen. Die wenigsten schaffen es, die ganze Strecke durchzulaufen. Um das Durchhalten wird ja immer so viel herumgeredet. Aber hier muss ich sagen: Alle, die schon am ersten Tag aufgegeben haben, die haben Recht gehabt. Es waren so schwierige Bedingungen.
Kann ein solcher extremer Lauf etwas verändern, eine Sichtweise, eine Einstellung?
Nehmen Sie zum Beispiel Barcelona…
…Ihr Olympiasieg 1992….
…da gab es auch keine Überhöhung für mich. Ich hatte mich gut vorbereitet, ich hatte eine Strategie, da ist man dann auch nicht so überrascht. Den Plan, dass etwas schief gehen kann, hatte ich auch im Kopf. Genau wie in Biel. Der neunte Platz bei der WM in Göteborg 1995, der hat mich umgehauen. Weil ich gedacht hatte, ich gewinne.
Was waren jetzt Ihre ersten Gedanken im Ziel?
Ich hab erst mal gar nichts gedacht. Ich war so kaputt. Mir ging es auch nicht gut nach der ganzen durchgelaufenen Nacht. Und der nächste Tag war fürchterlich. Ich konnte nicht einmal ein Zischbier trinken. Das ist mir noch nie passiert.
Sie sind in Ihrer Altersklasse 25. geworden. Hat sich die Qual überhaupt gelohnt?
Es war toll! Ich habe mich so gefreut auf diesen Tag, und die ersten 70 Kilometer waren klasse. Je länger das Rennen weg ist, desto mehr verdränge ich die Schmerzen. Es gibt auch noch zwei, drei Läufe dieser Art, die ich gerne machen möchte.
Welche denn?
Das muss ich nicht öffentlich machen – ich bin Freizeitläufer!
Das Gespräch führte Friedhard Teuffel. Der Tagesspiegel, Donnerstag, dem 23. Juni 2011