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04
08
2006

Bei der WM in Deutschland hat sich etwas ereignet, was niemand erwartet hat. Der Impuls des Geschehens ging nicht so sehr vom Fußball aus, sondern vom Publikum. Früher wurden die Nationen ausschließlich von ihren Fußballmannschaften repräsentiert. Jetzt wurde daraus ein Festival der Länder und ihrer Einwohner, jetzt eigneten sich die Zuschauer diese Repräsentanz an.

Die Welt zu Gast in Deutschland: Ein WM-Rückblick von Professor Gunter Gebauer für das Goethe-Institut

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Was die Bewohner Deutschlands mit ihrer Beteiligung in das Geschehen einbrachten, lässt sich nicht ökonomisch fassen. Auch die Beschreibung des Geschehens nach dem Modell der Betriebsfeier oder des Karnevals geht an der Sache vorbei. In dieses Fest wurden alle jene einbezogen, die normalerweise nicht zum Betrieb gehören und die sich auch beim Karneval ausgegrenzt vorkommen müssen.

Zu den Einwohnern dieses Landes, gehört eine beträchtliche Menge Ausländer, Eingebürgerte und Ehepartner aus anderen Ländern, die sich wie selbstverständlich am Fest beteiligten.

Unverkrampfter Umgang mit den Nationalsymbolen

Ausgerechnet mit den Landesfahnen, die gewöhnlich zum Arsenal des Nationalismus gerechnet werden, zeigten die Einwohner unseres Landes, ob mit deutschem Pass oder ohne, dass sie sich in das große Fest einbrachten und der Gemeinschaft der Feiernden zugehörig fühlten. Die überall auftauchenden deutschen Fahnen markierten keineswegs einen Herrschaftsanspruch. Im Gegenteil forderten sie die Bewohner anderer Länder geradezu auf, sich auch zu beteiligen.

Durch die Straßen fuhren Autos mit den Fahnen der Ukraine, von Serbien-Montenegro, Polen, Ecuador und natürlich der Türkei; oft wurde ein deutsches Fähnchen dazu gesteckt. Eine Fahne hissen gehört zu den Ritualen, mit denen man anzeigt, dass ein Fest in Gange ist.

Mit Patriotismus hat dies wenig zu tun: Niemand wollte während der WM sein Land und dessen Werte verteidigen. Wer eine Flagge zeigte, welche auch immer, wollte sich am Fest beteiligen und zu seinem Land stehen. Für die Deutschen zeigte dieses freudvolle Verhältnis zu den eigenen Farben zum ersten Mal seit sehr langer Zeit einen unverkrampften Umgang mit den Nationalsymbolen. Seit Ende des Krieges waren sie immer wieder vor einer Rückkehr des verhängnisvollen Nationalismus gewarnt worden.

Jetzt trat zu Tage, was man in Deutschland seit einiger Zeit beobachten konnte: dass sich die Deutschen von Grund auf gewandelt haben und zu einem friedlichen Volk geworden sind, das in seinem Land mit Lust feiern will, wenn es mit diesem einverstanden ist. Die Zeit, in der sorgenvolle Beobachter hinter jedem deutschen Nationalsymbol das Dritte Reich hervorlugen sah, ist endgültig vorbei – und was das Merkwürdige dabei ist: kein Ausländer findet das schrecklich, sondern eher normal.

Die Bedeutung des Flaggezeigens erkennt man auch daran, wie sich das Publikum den Symbolen anderer Nationen gegenüber verhält. In Dortmund schwenkten zigtausende deutscher Zuschauer die Fahnen von Trinidad und Tobago; in Köln tanzten wilde Männergruppen in Baströcken durch das Stadion und feuerten Ghana an, als wäre es ihre eigene Mannschaft.

Jugendliche aus Deutschland liefen scharenweise in Trikots ausländischer Mannschaften durch die Städte. Oft war nicht mehr auszumachen, ob jemand zu den Gastgebern oder zu den Gästen gehörte.

Herkömmliche Grenzlinien, die durch Gesichtsausdruck und Lebensführung angezeigt werden, waren nicht mehr recht erkennbar. So sehr verschwand das "typisch Deutsche" hinter einer anderen Lebensweise, dass die ausländische Presse mehrere Wochen lang mehr über den Wandel ihres Bildes von den Deutschen schrieb als über den Fußball.

Verwandlung vom Gastgeber zum Gast

Es gibt noch eine zweite Wirkung der WM in Deutschland. Man entdeckt diese, wenn man einen großartigen Gedanken von Kant aufnimmt: Wir sind alle nur Gäste auf der Erde, denn diese gehört niemandem. Wer in unser Land kommt, erhält von uns das Besuchsrecht, das ihm zusteht. Als Gastgeber in unserem Land sind wir zugleich Gäste auf der Erde, also auch Gäste bei uns selbst. Man erkennt diese doppelte Rolle von Gastgeber und Gast bei der WM, wenn man diese mit den früheren sportlichen Großereignissen vergleicht, die in Deutschland stattgefunden haben.
1936 war die Welt zu Gast bei Feinden. Die Gäste mussten sich in den faschistisch geprägten Rahmen der Berliner Spiele einordnen; die Gastgeber zeigten ihnen ihre neu gewonnene Stärke. Auch bei den Olympischen Spielen 1972 und der Fußball WM 1974 ging es darum, den Gästen etwas zu zeigen: dass die Bundesrepublik sich zu einer verlässlichen westlichen Demokratie entwickelt hatte. Im Zeitalter des Kalten Kriegs war diese Demonstration nicht zuletzt auch gegen die DDR gerichtet, die ihrerseits den beabsichtigten Erfolg der Gastgeber durch ihre sagenhafte Medaillenausbeute 1972 und ihren Sieg in Hamburg 1974 empfindlich störte.
Bei der WM 1974 ging es der Bundesrepublik in erster Linie darum, den Titel zu gewinnen. Der DFB zeigte sich damals als eine verschlossene Organisation, die nicht im Traum an Neuerungen und eine Öffnung gegenüber den hier wohnenden Ausländern dachte. Die Welt war zu Gast bei den (West-) Deutschen, und die waren immer schon die Besten.

Zum ersten Mal bei einem großen Sportereignis in Deutschland hatte der Veranstalter nicht das Ziel, den Ausländern etwas zu zeigen. In den vier Wochen der WM übernahmen die Einwohner dieses Landes die Lebensfreude Frankreichs, die Sorglosigkeit Italiens und den Rhythmus Brasiliens. Zwischen ihnen und ihren Gästen gab es keine nennenswerten Unterschiede mehr. Sie wurden für kurze Zeit Gäste ihrer selbst. Selbst wenn die Verwandlung vom Gastgeber in einen Gast nur ein Wunschtraum war, so war er doch wirklich, wenn man morgens aufwachte.

Einen Traum, der Wirklichkeit wurde, vertreibt man nicht so schnell aus seinem Leben. Wenn ein Land einmal intensiv erlebt hat, wie sehr sich sein Bild in den Augen der internationalen Öffentlichkeit gewandelt hat, möchte es dieses in Zukunft festhalten. Das neue Bild der Deutschen hat also gute Chancen, von diesen selbst bei geeigneten Gelegenheiten erneuert zu werden. Die Alltagsprobleme des Landes wird es nicht lösen, aber eine freudvollere Einstellung zu sich selbst kann neuen Schwung für deren Lösungen geben.

Gunter Gebauer
ist seit 1978 Professor für Philosophie und Sportsoziologie am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin.
Zu seinen zahlreichen Buchveröffentlichungen gehören u.a. "Sport in der Gesellschaft des Spektakel" (2003) sowie "Poetik des Fußballs" (2006).

"Goethe-Institut, Online-Redaktion"
https://www.goethe.de/kue/

author: GRR

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