Führt direkt zum Himmel - Foto: Peter Burkowski
Die Weihnachtsgeschichte der Nummer eins der Weltrangliste
Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute, hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh,
schlaf in himmlischer Ruh.
Liebe Lauf-Gemeinde,
manche mögen es kitschig finden, aber für mich wird erst richtig Weihnacht, wenn ich dieses Lied am Heiligen Abend singe. Und das geht wohl nicht nur mir so: Es ist die Nummer eins der Weihnachtslieder-Weltrangliste.
Und dieses Lied hat eine eigene Weihnachtsgeschichte. Denn es wurde auch aus der Not geboren, wie das Kind, dessen Geburt im Stall wir feiern. Vielleicht lässt sich dann auch so mancher Kitsch des holden Knaben mit lockigem Haar etwas besser ertragen. Und Not haben wir heute ja auch, bei uns, vielleicht ganz persönlich, sicherlich in unserem Land und noch viel mehr auf dieser Welt am Ende des Jahres 2024.
Wir schreiben das Jahr 1816. Sie nannten es das Jahr ohne Sommer. Es schneit bis in den Juni hinein. In Mitteleuropa fallen die Ernten aus. Der Hunger ist groß. Ohnehin leidet man immer noch unter den Folgen der furchtbaren napoleonischen Kriege im Land. Schwere Zeiten, dunkle Stunden, die Sehnsucht nach Licht und einem besseren Leben war groß. Vor allem unter denen, die sowieso schon unter ihrer Armut litten.
In dieser Armut des Dorfes Mariapfarr, südlich von Salzburg, schreibt im Dezember 1816 der Hilfspriester Joseph Mohr, 23 Jahre jung, unehelicher Sohn eines Soldaten und einer Strickerin, getrieben von dieser unstillbaren Sehnsucht nach Segen, ein Gedicht. Er nennt es „Stille Nacht, heilige Nacht“. Dann legt er es in die Schublade des Schreibtisches, dem einzigen Möbelstück neben dem Bett, das er besitzt.
Auf dem Zettel stehen sechs Strophen, nicht nur drei, wie bei uns im Gesangbuch.
Die zweite lautet so:
Stille Nacht, heilige Nacht!
Gottes Sohn! O wie lacht
Lieb aus deinem göttlichen Mund.
Da uns schlägt die rettende Stund.
Christ, in deiner Geburt,
Christ, in deiner Geburt.
Nachdem er sein Gedicht ordentlich im Schreibtisch verstaut hat, geht Joseph Mohr ins Wirtshaus und macht sich damit, wie schon oft, bei seinem vorgesetzten Pfarrer unbeliebt. Der missbilligt vor allem, dass Mohr ständig die Nähe der einfachen Leute sucht, Gitarre spielt und Volkslieder singt, statt die lateinische Messliturgie ordentlich einzustudieren.
Irgendwann wird es ihm zu bunt. Joseph Mohr wird zwangsversetzt.
Achtmal im Lauf seiner beruflichen Laufbahn. Ein gescheiterter Geistlicher. Die einzige Konstante in seinem Leben ist das angeborene schwere Lungenleiden. Im Jahr der Märzrevolution 1848 stirbt er daran. Unbekannt. Aber da sind wir jetzt noch nicht. Erst gibt es noch eine Sternstunde in seinem Leben, eine Sternstunde für uns Menschen, könnte man fast sagen. Eine Folge des Sterns über dem Stall von Bethlehem.
In Oberndorf, dem nächsten Ort der Versetzung, nördlich von Salzburg, begegnen sich zwei Menschen, die tatsächlich Weltgeschichte schreiben werden. Wie das so ist – in dem Moment ahnen sie davon nichts.
Ausgerechnet am Heiligabend des Jahres 1818 versagt die Orgel der Pfarrkirche Sankt Nikolaus ihren Dienst. Es ist tatsächlich so: Die Geburtsstunde des wohl berühmtesten Liedes der Welt geht zurück auf einen kaputten Blasebalg.
Zweieinhalb Milliarden Menschen und jedes Jahr ein paar mehr werden in späteren Zeiten in aller Welt das singen, was jetzt entsteht. Dabei gibt es nur zwei Milliarden Christen in der Welt. Es scheint Sehnsüchte anzusprechen, die tiefer liegen als ein bestimmtes Bekenntnis.
Stille Nacht, Heilige Nacht!
Die der Welt Heil gebracht,
Aus des Himmels goldene Höh’n
Uns der Gnade Fülle lässt seh’n
Jesus in Menschengestalt!
Jesus in Menschengestalt!
Schon vor über hundert Jahren wurde diese Strophe unterschlagen. Mit der Begründung, das wäre für die einfachen Leute theologisch viel zu kompliziert. Aber das stimmt so nicht. Im ganzen Liedtext kommen keine theologischen Fachbegriffe vor. Der Verse-Streicher ahnte wohl eher, dass hierin mehr Zündstoff steckt als in den napoleonischen Freiheitskriegen und den Bemühungen um Revolutionen dieser Zeit: Gott verlässt seine goldenen Höhen, um unter uns im Stall Mensch zu werden. Das roch nach Freiheit und Gleichheit für alle Geschöpfe. Das roch nach einer neuen Ordnung. Und das war für die Kirche vor 100 Jahren in der Regel doch ein wenig schwierig. Deshalb musste es gestrichen werden.
Aber zurück zum Heiligen Abend in Oberndorf, zurück zur kaputten Orgel. Eines war bei aller Eigenart und Unzuverlässigkeit für Joseph Mohr klar: Am wichtigsten Kirch-Tag im Jahr musste es für die Gemeinde Musik geben! Gerade in diesen bitteren Tagen brauchten die ausgelaugten, überarbeiteten Menschen hoffnungsfrohe Erbauung. Und er erinnerte sich an seine Verse von vor zwei Jahren: Stille Nacht, heilige Nacht.
Daraus könnte doch ein Lied werden, zumindest mit Gitarrenbegleitung. Mit diesem Gedanken im Kopf und dem Papier in der Hand eilt er zum Haus des Organisten von Oberndorf, Franz Xaver Gruber. Ein begabter Musiker. Er bekommt kurz vor seinem Tod 1863 in Ansätzen noch mit, was für Auswirkungen die Zusammenarbeit der beiden für die Welt haben wird. Auch wenn er später noch 70 Kompositionen, Messen, Choräle und Kantaten schreibt, sein Meisterwerk bleibt die Vertonung von „Stille Nacht“.
Von ihm selber wissen wir, wie das einmal alles begann. Er hat 1845 auf Bitten des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., der das Lied besonders liebte, die Entstehungsgeschichte aufgeschrieben: „Authentische Veranlassung zur Composition des Weihnachtsliedes „Stille Nacht, Heilige Nacht““.
Stille Nacht, heilige Nacht!
Wo sich heut alle Macht
Väterlicher Liebe ergoss
Und als Bruder huldvoll umschloss
Jesus die Völker der Welt!
Jesus die Völker der Welt!
Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber sahen sie jetzt vor sich: die Arbeiter, Bauern, Schiffer, Flüchtlinge und Gestrandete, armselig gekleidet, sehnsüchtig hoffend auf ein anderes Leben: wie so viele Menschen ihrer Zeit in vielen Ländern dieser Erde – nicht anders als heute.
Vielleicht liegt darin der Grund, dass die vierte Strophe auch rasch gestrichen wurde, als das Lied Verbreitung erlangte. Das Bild Jesu als Bruder aller Völker und Menschen vertrug sich nicht mit Preußens Herrschaftsansprüchen und den imperialen Großmachtträumen des späteren Deutschen Reiches. Und es war ja nun fast wörtlich gleich mit den revolutionären Bewegungen, aus denen etwa die Internationale hervorging. Diesen Anschein wollte man nicht erwecken!
Aber: Mohr und Gruber riefen gar nicht zum sozialen Umsturz auf. Sie hatten ihre Gemeinde vor Augen, die Brot aßen, das die Bäcker mit Sägemehl strecken mussten. Deshalb beriefen sie sich auf den großen Abstieg des Herrn aller Herren zu den Kleinen im Stall. Erfolg war noch nie ein Name Gottes, wohl aber Gnade, Liebe und Trost.
Um tatsächlich einen Stimmungswandel zu erzeugen, musste die Melodie in Dur gehalten sein, nicht in Moll. Mohr sang die Tenorstimme. Gruber den Baß. Begleitet hat Gruber das Lied auf der Gitarre.
Stille Nacht, Heilige Nacht!
Lange schon uns bedacht,
als der Herr vom Grimme befreit,
in der Väter urgrauer Zeit
aller Welt Schonung verhieß
aller Welt Schonung verhieß.
Schonung statt Grimm, das sollte die Botschaft an die Besucher der Christmette sein. Schon bei den ersten Akkorden ist die Gemeinde beseelt. Bei der Schlusszeile in Strophe 6 stimmen sie alle mit ein: „Jesus, der Retter ist da!“. Auch für sie da, das spürten sie.
Und dann? Zunächst gerät das Lied in Vergessenheit. Erst in den 1830er Jahren wurde es in Dresden und Leipzig im Rahmen von Tiroler Liederabenden wieder aufgeführt. Dann aber war der Siegeszug nicht zu stoppen. Die Sängerfamilie Strasser bringt es auf Jahrmärkte in Österreich, der Schweiz, in Deutschland.
in die USA nehmen es in die Neue Welt mit, wo es 1839 zum ersten Mal in der New Yorker Trinity Church erklingt. Heute ist es in 350 Sprachen und Dialekte übersetzt. Sechs Strophen für die Ewigkeit, sechs Strophen über Jesu Kommen für alle – zuerst für die Armen im Stall.
Keine Komposition von Bach oder Beethoven ist so bekannt, keine von den Rolling Stones, Michael Jackson oder Taylor Swift.
Stille Nacht, Heilige Nacht!
Hirten erst kundgemacht,
durch der Engel Halleluja
Tönt es laut von fern und nah:
Christ, der Retter ist da,
Christ, der Retter ist da!
Im Original stand noch: Jesus, der Retter ist da. Der Mensch Jesus an der Seite derjenigen, die ihn zuerst zu sehen bekamen: Hirten – und mit ihnen die Schiffer, die Bauern, die Arbeiter, die Obdachlosen, die Flüchtlinge.
Das Geheimnis dieses Liedes, das Geheimnis dieser Heiligen Nacht, es hat wohl damit zu tun, dass diese Botschaft uns bis heute in unserer Armut, die nicht materiell sein muss, in unserer Angst, in unserer Sorge, in unserer Sehnsucht trifft, so unterschiedlich sie für jeden sein mag, so bewusst oder unterdrückt, so offensichtlich oder so verborgen:
Diese Botschaft der Engel in der stillen, heiligen Nacht: Fürchtet euch nicht: Euch ist heute der Heiland geboren!“ Und damit „Liebe aus göttlichem Mund“, „Gnaden Fülle“, „aller Welt Schonung“:
Christus, der Retter, ist da!
Dr. Lars Charbonnier