©swiss runners
Die Vorstellung der schönsten Schweizer Läufe aus dem Heft „Swiss Runners 2013“ – Vom Ehrgeiz Getrieben – Bieler Lauftage vom 6. bis 8.6.2013
Wer 100 Kilometer im Laufschritt zurücklegt, wird bewundert. Oder als Spinner bezeichnet. Diese Distanz ist nicht normal. Sie ist ein Mythos. Mit der Ziellinie vor dem inneren Auge zwingt allein der Wille den Körper zu rund 80 000 Schritten. Gleichmässig, wie der Sekundenzeiger einer geduldigen Wanduhr, ein Fuss vor den anderen.
Eine Treibjagd. Martin Sahli sagt, man müsse verrückt sein, um diese Strecke auf sich zu nehmen. Der Seeländer mit der leisen Stimme und dem selbstsicheren Blick hat die 100 Kilometer von Biel bereits zwölfmal absolviert.
Als sein Vater 1970 die Königsdisziplin der Bieler Lauftage in Angriff nahm, war Martin Sahli drei Jahre alt. Ein kleiner Bub am Streckenrand. Bei der Schleuse in Port, unweit vom Elternhaus, jubelte er den vorbeiziehenden Athleten zu. Es war ein Juniabend, nach 22 Uhr. Einige rannten schnell, viele marschierten gemächlich über die Aare in die dunkle Nacht. Ein aufregendes Schauspiel. «Da hat mich das Virus bereits angesteckt», sagt Martin Sahli. Heute ist er 45 Jahre alt.
Die Nacht der Qualen
Martin Sahli war schon immer gerne auf Wanderschaft. Er hat keine Kinder – «das ist mein Glück», sagt er. So könne er beruflich immer wieder neue Risiken eingehen. Zwischen 1993 und 2000 lebte er in der Republik Singapur. Er führte dort mit seiner damaligen Frau sein eigenes Restaurant. Das Seeland blieb in weiter Ferne – aber immer in seinen Gedanken. 1998 entschloss sich der gelernte Bankbeamte zu einem Abstecher in die Heimat, um ein erstes Mal am 100-Kilometer-Lauf in Biel teilzunehmen.
Es sei ein lang gehegter Traum gewesen, einmal selber über die Schleusenbrücke in die Nacht zu entschwinden. Wie der Vater drei Jahrzehnte zuvor. Ohne viel Trainingsaufwand ging Martin Sahli an den Start. Endlich. Doch die «Nacht der Nächte», wie die Organisatoren den Lauf gerne bezeichnen, wurde für den Volksläufer zu einer «Nacht der Qualen». Er kämpfte. Er litt. Und als er rund vier Kilometer vor dem Ziel wieder an der Schleusenbrücke vorbeilief, habe er auch noch mit den Tränen zu kämpfen gehabt, «weil ich diese herausragende Leistung vollbracht hatte».
Martin Sahli lächelt abwesend, wenn er an jene Nacht zurückdenkt. «Ich habe damals viel über mich und meinen Körper gelernt», sagt er. Nach dem Erreichen der Ziellinie wollten ihn die gejagten Beine nicht mehr tragen. Er setzte sich hin und konnte nicht wieder aufstehen. Martin Sahli musste im Rollstuhl zu seinem Fahrzeug gebracht werden. Er war stolz. Er hatte es geschafft.
Haus in Thailand
Und Martin Sahli wollte es wieder schaffen. «Um mir selber zu beweisen, dass ich es besser kann.» Getrieben vom Ehrgeiz. Doch Martin Sahli sagt, er habe auch erkannt, dass der Lauf nur die Spitze des Eisbergs ist. Das Training und die Tatsache, mit viel Bewegung gesünder zu leben, sei wichtiger. «Der Weg ist das Ziel.» Martin Sahli startete wieder. Und wieder.
In der Zwischenzeit hatte er eine neue zweite Heimat gefunden. Und eine neue Liebe. In Wapi Pathum, im Nordosten Thailands, kaufte er sich 2005 gemeinsam mit seiner Freundin ein Haus. In dem Land, in dem der König über allem steht, will er nun ein eigenes Geschäft in der Projektberatung aufbauen, für Kunden aus dem Ausland Bauprojekte realisieren. Er spricht bereits Thai und wagt sich nun an die Schriftzeichen. Der Sport ist dabei ein Ausgleich.
Beim regelmässigen Lauftraining denke er über Probleme und Erfolge nach, sagt der 45-Jährige. Martin Sahli beginnt seine Runde jeweils um 5 Uhr morgens, um der grössten Hitze des Tages zu entgehen. Mit nacktem Oberkörper laufe er durch die Natur. «Das Training ist in Thailand intensiver als in der Schweiz», sagt der gebürtige Seeländer. Der Körper gewöhne sich an Extremsituationen.
Den Stecker gezogen
2012 hat Martin Sahli die 100 Kilometer von Biel zum zwölften Mal in Angriff genommen. Nach zehn Stunden und siebenunddreissig Minuten erreichte er das Ziel. Unterwegs legte er eine kurze Pause ein, liess sich die Waden massieren. Er habe aus einem frustrierenden Ereignis zehn Jahre zuvor gelernt, sagt Martin Sahli. Im Jahr 2002 musste er in Kirchberg aufgeben, nachdem er bis dahin in der Spitzengruppe mitlief. Die Beine seien nur noch «Öpfumues» gewesen, «es war, als hätte jemand einfach den Stecker gezogen». In den Jahren danach startete er dann jeweils in gemächlicherem Tempo. Und kam immer durch.
Die Gesundheit sei ihm inzwischen wichtiger als eine bestmögliche Zeit. Er könne sich gut vorstellen, 2013 wieder in die Schweiz zu fliegen und erneut an den Start zu gehen. «Es ist eine Sucht.» Martin Sahli läuft und läuft, immer wieder, weil er laufen muss. Er kann nicht anders.
Die 100 Kilometer von Biel haben ihn seit frühester Kindheit begleitet. Sie liefern Jahr um Jahr den Beweis, dass er immer noch zu dieser kleinen Gruppe von Spinnern gehört. Dafür wird er bewundert.
Mehr zu den Bieler Lauftagen finden Sie hier.
Lino Schaeren (Bieler Tagblatt)
EN