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Die TSG Tübingen – kein Verein wie jeder andere – sport-nachgedacht.de – Prof. Dr. Helmut Digel
Der Sport weist in diesen Tagen eine außergewöhnliche Vielfalt auf. Die Zahl der regelgebundenen Sportarten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiv vermehrt. Es gibt daneben viele formelle und informelle Sportaktivitäten. Sport kann in der freien Natur oder in hoffentlich gut ausgestatteten Sportstätten ausgeübt werden.
Der Sport ist zu einem Massenphänomen geworden, das weltweit angetroffen werden kann. Den Kern dieses komplexen Sportsystems bildet allerdings nach wie vor – zumindest in Deutschland – jene Institution, aus der heraus sich der moderne Sport entwickelt hat. Es ist der Turn- und Sportverein. Manche von Ihnen dürfen in diesen Tagen bereits ihren 200. Geburtstag feiern.
In den Turn- und Sportvereinen werden Bewegung, Spiel und Sport nach wie vor am aktivsten und meist auch sehr konsequent ausgeübt. Dank geschuldet ist dies den vielen unzähligen ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die diese besonderen freiwilligen Vereinigungen bis heute am Leben erhalten haben.
„Sport-nachgedacht.se“ hat sich immer wieder mit Fragen der Sportentwicklung in den Organisationen des Sports auseinandergesetzt. Mit dem folgenden Gastbeitrag von Prof. Dr. em. Hartmut Gabler (Universität Tübingen) soll nunmehr eine Serie von Beiträgen beginnen, in denen ausgewählte Turn- und Sportvereine aus der Sicht eines Kenners und/oder Mitglieds des jeweiligen Vereins unter dem Motto „Mein Turn-und Sportverein“ porträtiert werden sollen.
Diese Serie kann einerseits einen historischen Beitrag zur Entwicklung des Sports in Deutschland leisten, andererseits aber auch Anregung sein für all jene, die auch zukünftig an der kulturellen Weiterentwicklung des Sports in Deutschland mitarbeiten wollen.
H.D.
Gastbeitrag „Mein Turn-und Sportverein“
Die TSG Tübingen – kein Verein wie jeder andere
Hartmut Gabler
In Deutschland gibt es insgesamt etwa 600.000 gemeinnützige Vereine. Hauptsächlich sind es Sportvereine, Kultur- und Musikvereine, soziale Vereine, Naturschutzvereine, politische und kirchliche Vereine. Diese Vereine leisten einen unschätzbaren Dienst für die Gesellschaft.
Laut Statistischem Bundesamt gibt es etwa 24 Millionen Mitgliedschaften in 80.000 Sportvereinen. Sportvereine haben eine wichtige soziale Funktion: Menschen mit unterschiedlicher Weltanschauung, Ethnie, Religion und Hautfarbe begegnen sich und treiben gemeinsam Sport. Im Wettkampf werden Fairness und Solidarität erlebt. Sport trägt zur Gesundheit bei. Sport leistet einen wichtigen Beitrag im Rahmen der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Dies mag zu idealistisch gesehen werden. Doch in welchen Bereichen der Gesellschaft werden so viele Funktionen zumindest angeregt?
Es gibt große und kleine Vereine, Einsparten- und Mehrspartenvereine, Vereine wie jeder andere und besondere Vereine.
Die TSG Tübingen ist kein Verein wie jeder andere. Ich will dies mit vier Pfeilern, die ihn tragen, begründen:
- eine enge Verbindung von Tradition und Fortschritt,
- eine Vielfalt der Angebote,
- eine enge Verbindung von Breiten- und Leistungssport und
- ein großes ehrenamtliches Engagement.
Eine enge Verbindung von Tradition und Fortschritt
Die TSG Tübingen ist der älteste und mitgliederstärkste Sportverein in Tübingen. Der Verein wurde 1845 von 19 Personen gegründet. Ihm gehörten zunächst vor allem Bürger und Studenten an. Nach der Revolution 1848/49 zogen sich die Studenten in ihre Verbindungen zurück. Die Arbeiter, Handwerker und Weingärtner der „unteren Stadt“ (die Akademiker wohnten in der „oberen Stadt“) pflegten Turnübungen, Wehrhaftigkeit, sittliche Tugend und geselliges Zusammensein. Das gesellige Zusammensein wurde durch Turnfahrten, gesellige Veranstaltungen, Pflege des Gesangs u.a. erweitert.
Nach der Jahrthundert wende gehörte die Turngemeinde (TG) zu den ersten Vereinen, die sich zu einem Sportverein entwickelte. Es entstand eine Schwimmabteilung, eine Boxriege, eine Handball- und Fußballabteilung sowie eine Skiabteilung.
Nach der Wiedergründung 1946, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch die französische Besatzungsmacht genehmigt wurde, wurde der Verein in „Turn- und Sportgemeinde Tübingen“ (TSG) umbenannt. Im Vergleich zu ebenfalls alten Vereinen entwickelte sich die TSG schnell zu einem modernen Sportverein mit vielen Abteilungen und dementsprechend vielfältigen Angeboten, auf die ich noch näher eingehen werde. Sie wurde unterstützt vom „Institut für Leibesübungen“ (später „Institut für Sportwissenschaft“) der Universität Tübingen. Inzwischen hat die TSG über 3.000 Mitglieder.
Fortschrittlich war auch die Beteiligung der Mädchen und Frauen. Zu Beginn der Turngemeinde wurde noch davon ausgegangen, dass Frauen körperlich und geistig den Männern unterlegen sind. Merkmale wie Mut, Ausdauer und durchschnittliche Leistungsfähigkeit wurde ihnen nicht zugeschrieben, dagegen ihre Rolle als Hausfrau und Mutter. Der emanzipatorische Wandel begann jedoch relativ früh, als auf das Korsett verzichtet wurde und Turnhose mit Turnleibchen Eingang fanden. Auch durften nun ältere und verheiratete Frauen turnen. Zuvor wurde dies als unschicklich angesehen. Bewegungsformen wie Freiübungen, Keulenschwingen, Reigen und Tänze wurden ergänzt durch Schwimmen, Eislaufen, Skifahren und Tennis spielen.
Vielfalt der Angebote
Entsprechend dem Trend im deutschen Sport ergänzte die TSG im Laufe der Zeit die klassischen Sportarten durch neue. Dies ergab trotz räumlicher Begrenzung der Sportanlage insgesamt ein vielfältiges Angebot in folgenden Abteilungen: Badminton, Fußball, Handball, Klettern, Kunstturnen, Lacrosse, Leichtathletik, Luftakrobatik, Rhythmische Sportgymnastik, Tennis und Volleyball. Für diese Sportarten stehen Spielflächen (Natur- und Kunstrasen), eine Kletterwand mit Boulderfassade, eine Beachvolleyball-Anlage, ein Tennisplatz und ein Kinderspielplatz zur Verfügung. Schließlich verfügt die TSG über eine vereinseigene Einfeldsporthalle mit Bewegungslandschaft.
Ein besonderes Angebot stellen innovative Spiel- und Sportangebote dar, die sich seit 1996 entwickelten: Kindersportschule (1996), Klettern (2005), Feriensportcamps (2005), Lacrosse (2007), „Sport-Spaß-Gesundheit“ (2007), „Cross-Sport“ (2015), „Kindergeburtstage“ (2015) und Betriebliche Gesundheitsförderung (2016).
In der Kindersportschule tummeln sich derzeit etwa 600 Kinder im Alter zwischen 1 und 12 Jahren.
Am Ende der ersten Saison 2005 hatten sich 8.200 Besucher der Kletteranlage registrieren lassen. Der Höhepunkt wurde 2009 mit 15.500 Eintritten erreicht. Im Laufe der nächsten Jahre war der Boom vorüber, auch aufgrund des Baus weiterer In- und Outdoor- Kletterzentren in Tübingen und im Umfeld.
In den Ferien bietet die TSG Feriensportcamps mit Sportarten an, die gewünscht werden.
„Sport-Spaß-Gesundheit“ umfasst Pilates, Yoga und Fitnesskurse aller Art. Es gibt Gesundheitssport-Kurse, deren Teilnehmer die Kurse mit einem ärztlichen Rezept (z.B. betr. Rückenprobleme) besuchen. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten.
„Cross-Sport“ ist ein Trendsportangebot sowohl für Kinder, die aus der Kindersportschule herauswachsen als auch für Jugendliche, die Vorbehalte gegenüber dem Abteilungssport haben. Trendsportarten sind z.B. Parcours und Free-Running.
Eltern können ihre Kinder zu einem „Kindergeburtstag“ einladen und auswählen, welcher Sport angeboten werden soll.
Schließlich gibt es noch die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF). Die „Bewegte Pause“ ist das perfekte Einstiegsmodell für weitere BGF- Angebote. Hieraus ergeben sich erfahrungsgemäß spezielle Kurskonzepte oder Firmen-Events, die direkt im Betrieb oder auf der TSG-Sportanlage umgesetzt werden. Dadurch liefert der Verein auch einen Beitrag für die Tübinger Stadtgesellschaft. Er motiviert zum Sponsoring und bessert seinen Haushalt auf. Ein willkommener Begleiteffekt dieser Angebote ist die Gewinnung neuer Mitglieder.
Verbindung von Breitensport und Leistungssport
1959 beschloss der Deutsche Sportbund (DSB, inzwischen DOSB) die Einführung eines „Zweiten Wegs“. Er sollte ursprünglich die Basis für den bis dahin dominierenden Leistungs- und Spitzensport sein, entwickelte sich allerdings bald zu einem eigenständigen Bereich des Sports. Verschiedene Begriffe und Bereiche haben sich ausdifferenziert: Breiten-, Freizeit- und Gesundheitssport auf der einen Seite und Leistungs- und Wettkampfsport sowie Hochleistungssport auf der anderen Seite.
Der „Zweite Weg“ sollte möglichst viele Menschen anregen, Sport zu treiben – Jüngere und Ältere, Frauen und Männer, Sportliche und Unsportliche. Die Ziele des Breitensports in und außerhalb der Vereine waren und sind: Ausgleich des Bewegungsmangels, körperliche Fitness, Gesundheitsförderung und Freude am gemeinsamen Sportreiben. Die ersten Aktionen des Zweiten Wegs waren die Einrichtung von „Trimm-Dich-Pfaden“ und „Waldsportpfaden“, Betriebssport, Behindertensport, Sportabzeichen und Volksläufe.
Eine enge Verbindung von Breiten- und Leistungssport
Ein weiteres besonderes Merkmal der TSG ist die enge Verbindung von Breitensport und Leistungssport. Die beschriebenen Angebote, die außerhalb der Abteilungen stattfinden, sind reiner Breitensport. In den Abteilungen wird Breiten- und Leistungssport auf unteren und höheren Ebenen betrieben. So hat die TSG im Fußball neben zwei Aktiven-Mannschaften 14 Fußball-Mannschaften im Kinder- und Jugendbereich. Ihnen stehen allerdings lediglich zweieinhalb Großspielfelder zur Verfügung.
Außergewöhnlich ist, dass auch Spitzensportler und Spitzensportlerinnen entweder aus der TSG hervorgingen oder eine Zeit lang ihr Training in der TSG durchführten und in dieser Zeit bei Wettkämpfen auch für die TSG an den Start gingen.
1995 wurde das TSG-Mädchenturnen als Fördergruppe für Kunstturnen ausgezeichnet. Im Zeitraum bis 2023 gehörten sechs ehemalige TSG- Turnerinnen dem Bundeskader an. Kim Bui und Marie Pulvermacher (geb. Hindermann) nahmen erfolgreich an Weltmeisterschaften teil. Beide haben in der TSG mit dem Turnen angefangen.
2018 bestritt Thilo Kehrer sein erstes Länderspiel für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Auch er sammelte seine ersten fußballerischen Erfahrungen in der TSG.
In der Leichtathletik waren im Rahmen der „LAV Stadtwerke Tübingen“ (einem Zusammenschluss verschiedener Leichtathletikabteilungen von vier Tübinger Vereinen) auf nationaler und internationaler Ebene erfolgreich: Jackie Baumann (400 Meter Hürden), Robert Baumann (3.000 Meter Hindernis), Marius Bröning (100 Meter), Arne Gabius (5.000 Meter), Filmon Ghirmai (3.000 Meter), Hanna Klein (1.500 Meter), Peter Rapp (Weitsprung, 100 Meter), Marie-Laurence Jungfleisch (Hochsprung) und Stefan Wenk (Speerwurf).
In der Rhythmischen Sportgymnastik waren auf nationaler und internationaler Ebene erfolgreich: Heike Michel, Diana Fröschke, Philis Yazar, Laura Stecher, Sara Radmann, Camilla Pfeffer, Marie Protschka, Julia Abramova, Hanna Zernickel, Anna-Maria Schathohkin, Katja Tenenbaum, Julia Wolf.
Bedeutung des Ehrenamts
1995 stand die TSG aufgrund des defizitären Spielbetriebs der Frauenmannschaft im Volleyball, die seit 1991 in der 1. Bundesliga gespielt hatte, kurz vor dem Verlust der Gemeinnützigkeit und damit vor der Vereinsauflösung. Es galt, einen Schuldenberg von 600.000 DM aus dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb abzutragen. Der bisherige 2. Vorsitzende, Hanns-Peter Krafft, übernahm das Amt des 1. Vorsitzenden. Gefragt waren nun die Unterstützung durch den Oberbürgermeister, durch die Gemeinderatsfraktionen und Landtagsabgeordneten sowie durch den Präsidenten des Landessportbundes und die Direktoren der Gläubigerbanken. Dank einer einzigartigen Gemeinschaftsleistung gelang es, die Zukunft der TSG zu sichern.
Zudem trug ein zweites, neu gewähltes Mitglied des Vorstands ganz wesentlich dazu bei, dass der Verein wieder auf die Füße kam und sich positiv entwickeln konnte: Gerold Jericho, selbst ein erfolgreicher Leichtathlet (Deutscher Meister im Leichtathletik- Fünfkampf 1963), entwickelte ein Finanzierungskonzept. Es bestand aus der Gewinnung einer Sponsorengruppe, die es in leicht veränderter Form noch heute gibt, der Entwicklung eines Veranstaltungsprogramms, der Reduzierung der Haushalte der Abteilungen, einem Dieter Thomas Kuhn-Konzert und einer bis heute sehr erfolgreichen Sportgala.
Von 1995 bis 2025 (30 Jahr lang!) haben Hanns-Peter Krafft und Gerold Jericho die TSG ehrenamtlich geführt, unterstützt von einem engagierten Vorstand. Alle Mitglieder des jetzigen Vorstands waren über 10 Jahre im Amt. Hanns-Peter Krafft, Gerold Jericho und einige weitere Mitglieder des Vorstands scheiden jetzt im Mai aus.
Diese Ehrenamtlichen, unterstützt von den Abteilungsleitern und weiteren Ehrenamtlichen, die kein offizielles Amt innehaben, haben den Verein zu dem gemacht, was er heute ist: ein Verein mit über 3.000 Mitgliedern, soliden Finanzen, sportlichen Erfolgen und hervorragenden Sportanlagen.
Ein Beispiel für die ehrenamtliche Mitarbeit von Mitgliedern, die kein offizielles Amt bekleiden: 1993 gründete sich eine Bautruppe aus Mitgliedern verschiedener Abteilungen. Sie gestalteten den Kinderspielplatz, den Plattenbelag der Gaststätten-Terrasse, den Umbau der Toiletten, den Neubau des Umkleidebereichs für Damen und vieles mehr. Im Jahre 2020 erhielt der „TSG- Bautrupp“ den Bürgerpreis der Stadt Tübingen.
Ein Verein dieser Größe benötigt eine enge Zusammenarbeit zwischen Ehrenamt und Hauptamt. Da der Verein noch keinen Geschäftsführer hat, wurde die Geschäftsstelle mit acht hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzt. Davon arbeiten zwei auf einer Vollzeitstelle und sechs auf Teilzeitstellen. Die Hauptamtlichen sind jeweils einzelnen Vorstandsmitgliedern zugeordnet, so dass eine enge Zusammenarbeit und schnelle Entscheidungen möglich sind.
Die TSG aus der Außenperspektive
In der Festschrift zum 175-jährigen Jubiläum 2020 schrieb der Oberbürgermeister der Stadt Tübingen: „Der älteste und mitgliederstärkste Sportverein besteht nun seit 175 Jahren. Die 175-jährige Geschichte des Vereins ist zugleich auch eine 175-jährige Verbindung mit der Stadt. Keine Frage: Die TSG gehört inzwischen zu Tübingen wie die Stiftskirche und die Stocherkähne.“
Letzte Bearbeitung: 11. März 2025