Mauergedenken Hohen Neuendorf - Foto: Dr. Erdmute Nieke
Die Stille in Berlin oder eine andere Form der Erinnerung an 60 Jahre Mauerbau in Berlin – 100 Meilen von Berlin – am 14. August 2021 von Dr. Erdmute Nieke
Impressionen von den letzten 33 Kilometern des 9. Mauerweglaufes
Wiederholungstäterin – Staffelläuferin beim Mauerweglauf! Wieder mit dem LT Bernd Hübner, ist eine Staffel unter dem Namen „4 Hübis UNTEILBAR“ bereits am 9. November 2019 gebucht. Dann Coronapause und nun im August 2021 Neustart mit angepassten Abläufen!
Der LG Mauerweg ein riesengroßes Dankeschön, dass Ihr es gewagt habt unter den besonderen Bedingungen diesen Lauf zu organisieren und durchzuführen. Denn der Mauerweglauf ist nicht irgendein Ultralauf, sondern eine andere Form des Erinnerns an die Mauertoten!
Freitag 13. August 021: Abends, Pastaparty, etwas anders als sonst, sitzen wir an weißen Tischtüchern und überlegen, welchen Gedanken wir auf die Karte mit dem Satz „In Erinnerung an Dieter Berger…“ und seinem Foto schreiben. Dieter – ein Maurer – wurde nur 24 Jahre alt. Erschossen 1963 in Berlin-Johannisthal!
Detlef – unser Startläufer nimmt unseren Satz auf der Karte mit und hängt sie am Ort des Geschehens an eine aufgestellt Wand.
Neu ist, dass wir bereits am Freitag unsere Finisher-T-Shirts mitnehmen, wie jedes Jahr wieder ein Motiv von der East-Side-Galerie. In diesem Jahr ist es der Mauerspringer von Gabriel Heimler aus dem Jahr 1990. Wie passend, denn am Morgen hatte ich in meiner evangelischen Schule gemeinsam mit allen Schüler:innen eine Andacht in Erinnerung an 60 Jahre Mauerbau unter dem Motto „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen! (Psalm 18, 30)“ gefeiert.
Samstag, 14. August 2021: Morgens um 7.30 Uhr startet Detlef, neu ist, dass niemand mit ins Stadion darf, dafür sitze ich zu Hause vorm Livestream und sehe sie alle am Start. Dirk übernimmt am Mittag, dann Maria am späten Nachmittag und ich versuche gelassen zu bleiben als Schlussläuferin.
Immer wieder schaue ich ins Live Update auf der Veranstaltungsseite, um nicht zu früh oder gar zu spät zum Start zu gehen. Am Ruderclub Hennigsdorf ist wieder – wie alle Jahre – WP3. Ich laufe dieses 33-km-Stück nun schon zum vierten Mal und zum zweiten Mal im Dunkeln, denn die Laufrichtung wechselt jedes Jahr.
Kurz nach 22 Uhr bekomme ich den Transponder von Maria und gehe auf die Strecke. Es ist bereits richtig dunkel und die Strecke schon ziemlich leer. Ich genieße die Frische, den Wald im Norden von Berlin und die Stille. An meinem ersten VP treffe ich nicht nur auf gut gelaunte Helfer:innen, sondern auch auf den Rennarzt Carsten Bölke. Er ist zum Plaudern aufgelegt und meint, dass er mir ansehen würde, dass ich das Laufen genieße und schwärmt auch von der fast geheimnisvollen Stille und der frischen Luft auf diesem Streckenabschnitt.
Ich laufe weiter, überhole nur selten Einzelläufer und noch seltener Läuferinnen, die Gehpausen machen. Sie haben bereits über 130 Kilometer in den Beinen. Immer grüße ich sie mit ein paar netten Worten. Die meisten bemerken, dass ich eine noch frische Staffelläuferin bin.
Dann geht der Weg durch die Invalidensiedlung, ein ziemlich abgelegenes Wohngebiet, das in den dreißiger Jahren durch eine Stiftung gebaut wurde. In einigen Fenstern brennt noch Licht. In einem offenen Fenster, an dem ich vorbei laufe, sitzt eine schwarze Katze, gerade so, als würde sie uns Nachtläufer:innen beschützen. Ein so friedliches Bild! Schwer vorstellbar, dass diese Ecke Berlins bis 1989 lange 28 Jahre von drei Seiten zugemauert war.
Hinter Hohen Neuendorf geht es wieder in den Wald, die Strecke führt an einem der letzten erhaltenen Mauertürme vorbei. Heute nutzt die Naturjugend diesen Turm und betreut auch den VP. Hinter dem Stand mit den vielen guten Leckereien und den Getränken – öffnet sich eine sandige Waldlichtung im Dunkeln und ich entdecke auf einer leichten Anhöhe – grün angestrahlt – eine neue Installation! 148 verschiedene Stühle stehen im Sand. Auf jedem Stuhle eine schwarze Tafel und mit weißen Buchstaben die Namen der Mauertoten. Gänsehaut! Meine Zeit ist mir egal, ich verlasse kurz den Weg um es auf mich wirken zu lassen. Erinnerungen und Gedenken, so wichtig und so verschieden! Mit meiner Startnummer, auf der in diesem Jahr Dieter Berger abgebildet ist, stehe ich vor diesen 148 Stühlen, vor diesen 148 Menschen, die vielleicht noch leben könnten!
Dann laufe ich weiter. Und wieder die vollkommene Stille der Nacht.
Selten ein Begleitrad oder eine Läuferin. In Frohnau wird es wieder etwas städtischer, doch die Stadtrandsiedlung liegt bereits im nächtlichen Schlaf, lediglich auf einem Balkon werde ich von drei jungen Frauen angefeuert. Dann mein dritter VP, schon wieder treffe ich auf den Rennarzt und plötzlich stimmen alle Happy birthday an! Max kommt – ein Ultaläufer und es ist gerade Mitternacht und Max hat Geburtstag! Er wird 31 – herzliche Glückwünsche auch hier nochmal – bleib gesund und laufe noch lange und weit! Max und seine Begleitung, die mit einem Happy-Birthday-Luftballon am Rad weiter fährt, treffe ich noch öfter auf der verbleibenden Strecke. Max hat die Mauer nicht mehr gesehen, er ist gerade 31 geworden!
UNTEILBAR im Zielbogen -Foto: Dr. Erdmute Nieke
Dieter Berger konnte nur 24 Jahre alt werden. Das sind die nächtlichen Gedanken, die mir durch den Kopf gehen. Die Strecke führt jetzt wieder durch ein wunderbares Naturgebiet bei Lübars: Sterne, Stille, Bäume, Sand, Wasser, Frische, Weite!
Mitten in der Stille höre ich eine Stimme hinter mir: Erdmute – bist Du es? Dirk, unser zweiter Staffelläufer, hat mich doch wirklich mit dem Rad so in der Nacht im Nirgendwo gefunden!
Es folgen drei weitere Versorgungspunkte. Überall gute Laune und motivierte Volunteers. DANKE – Euch allen!
Dann kommt die Stadt und das Ziel in Sicht! Es ist weniger still, hier und da noch Partymusik und – auch das ist Berlin – Obdachlose unter den S-Bahn-Brücken. Dann laufe ich unter der Bornholmer Brücke durch – der 9. November 1989 gehört zum 13. August 1961 – denn hier begann die Öffnung der Mauer, dieser 9. November gehört auch zu meinem Leben, er hat mir so viele, neue und andere Möglichkeiten eröffnet!
Im Mauerpark kommen mir sechs junge Frauen entgegen – wahrscheinlich von einer der Mauerparkpartys – und nölen, warum man denn um drei Uhr nachts joggen müsse. Weil da, wo Ihr jetzt feiert, unser Berlin früher geteilt war?
Am Eingang des Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparkes im Prenzlauer Berg werde ich von freundlichen Helfer:innen zum richtigen Tor geleitet und vor dem Eingang zur roten Bahn zur Schlussrunde steht wirklich meine gesamte Staffel! Detlef, Dirk und Maria: zu viert laufen wir die letzten 400 Meter. Die Runde wird wieder – wie vor drei Jahren – von den farbigen Kugeln beleuchtet!
Und dann: Ende! FINIS! 160 Kilometer! Hier wieder was Neues. Sofort erhalten wir unsere Medaillen und die Urkunden. Hat auch was, so direkt im Ziel! Sonst gab es eine Siegerehrung für alle am Sonntag.
Doch das Wichtige: Auf der Medaille – das Porträt Dieter Berger, 24 – Erinnerungen an 60 Jahre Mauerbau! Wir – heute – UNTEILBAR – möge es so bleiben!
Dr. Erdmute Nieke