Aber nicht nur irritierend ist das Verhalten der „Marshalls“ an der Strecke, der mit einer roten Flagge ausgestattet war, damit Läufer über dem Zeitlimit an vorgegebenen Positionen das Rennen beenden.
Die rote Flagge von Fukuoka – Nach seiner „unglücklichen“ Mission als Pacemaker in Fukuoka jagt Eliud Kiptanui Ende Januar 2011 in Dubai Hailes Marathon-Weltrekord – Helmut Winter berichtet
Der Fukuoka Marathon am 5. Dezember geriet in diesem Jahr in den besonderen Fokus der Aufmerksamkeit der internationalen Straßenlaufszene. Allerdings weniger durch außergewöhnliche sportliche Resultate, die es im Jubiläumsjahr „2500 Jahre Marathon“ in großer Zahl zu verzeichnen gab, als vielmehr durch Ereignisse, die ab 15 km ihren „Lauf“ nahmen, um dann bei 30 km ein abruptes Ende zu finden.
Denn während die Ergebnisse im Ziel eher enttäuschend waren – die Siegerzeit eines wieder genesenden Gharib (MAR) von 2:08:24, nur vier Läufer unter 2:13 und auch ein Zehnermittel von 2:13:30 sind mittlerweile international bestenfalls zweitklassig –, machten Ereignisse hervorgerufen durch einen Tempomacher von sich reden, die man in dieser Form vermutlich kaum zuvor bei einem hochkarätigen Stadtmarathon erlebt hat.
Zunächst nahm der Lauf von großer Tradition in der südjapanischen Metropole einen wenig spektakulären Verlauf, vier Tempomacher führten ein Feld von ca. 15 Athleten über den ersten Teil der Strecke. Dabei übernahm wie geplant zunächst der Japaner Matsumara die Tempoarbeit. 15:07 bei 5 km und 30:18 bei 10 km waren mit einer Endzeit von 2:07 im Einklang. Bei 15 km in 45:27 war diese Vorgabe aber in Gefahr, ein Steigerung des Tempos sinnvoll.
Und dort nahm das Unheil seinen „Lauf“, denn Eliud Kiptanui (KEN) sollte nun als vermeintlich stärkster Tempomacher bis ca. zur Wende bei 31,7 km die Spitzenläufer unterstützen. Dabei ist Kiptanui spätestens seit diesem Frühjahr nach seinem sensationellen Lauf über das Kopfsteinpflaster Prags in 2:05:37 kein Nobody mehr. Der mittlerweile 21jährige gehört sicher zu den größten Talenten der internationalen Szene im Straßenlauf. Beim Berlin-Marathon Ende September machte ihm der Dauerregen und die nassen Straßen sehr zu schaffen, er wurde in „nur“ 2:08:05 Fünfter, war damit aber immer noch schneller als der spätere Sieger in Fukuoka in diesem Jahr.
Über welches große Potential Eliud verfügt, demonstrierte er unmittelbar nach der 15 km Marke, wo er, wie zuvor verabredet, die Tempoarbeit übernehmen sollte. Dabei kamen Anweisungen, das Tempo zu steigern, und die Unerfahrenheit des jungen Kenianers unglücklich zusammen, denn der legte los, als ob es an der nächsten Ecke eine Prämie zu gewinnen gäbe. Dabei hätte man ihm im Vorfeld noch eindringlicher darauf hinweisen müssen, dass Tempomacherdienste wenig hilfreich sind, wenn man seiner Klientel schlichtweg davon rennt. Das machte Eliud. Und wie!
Aus der TV-Aufzeichnung wurde für den Kilometerabschnitt zur 16 km Marke 2:41 ermittelt, und auch der folgende km in 2:46 war nur ungleich langsamer. Dass seine Mitstreiter dieses Höllentempo nicht mitgehen konnten und vor allem wollten, erscheint nur zu plausibel. Für solche Zwischenspurts – dazu noch in einer frühen Phase eines Marathons – muss auch ein Weltklasseathlet in der Endphase Tribut zollen.
Nur Gharib ging deshalb, aber mit respektablem Abstand, die Temposteigerung mit, denn er wusste natürlich um das Potential des Ausreißers. Es gibt Gerüchte, die besagen, dass sich Kiptanui im Vorfeld erkundigt habe, ob es nicht möglich sei, ggfs. das Rennen durchzulaufen. Mit der Verbindlichkeit japanischer Organisation hatte man ihm aber klar gemacht, dass dies weder gewünscht noch möglich sei. Mit diesen Informationen im Kopf sauste Kiptanui dem Feld vorweg, bei 20 km in 59:42 war er die letzten 5 km in phantastischen 14:15 km gerannt.
Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass niemals in dieser Phase eines bedeutenden Marathons ein Läufer schneller war, die Bestmarke hält hier Haile Gebrselassie vom letzten Auftritt in Berlin 2009 in 14:36. Die Temposteigerung hatte auch die Konsequenz, dass sich der Kenianer bei der Halbmarathonmarke in 1:02:58 bereits auf Kurs zu einer Zeit unter 2:06 befand.
Kiptanui wirkte beeindruckend locker, lief auch die kommenden 5 km mit 14:55 sehr schnell, und eine sichtlich irritierte Schar von Beobachtern dieses Schauspiels fragte sich, was der Kenianer im Schilde führte, ob er ggfs. nun auf eigene Rechnung lief und versuchte das Rennen zu gewinnen.
Doch bevor sich solche Spekulationen weiter verdichteten, gab ein japanischer Kampfrichter an der 30 km die Antwort auf diese Frage. Mit einer roten Flagge stellte sich der Offizielle dem Führenden in den Weg, der Sololauf des Eliud Kiptanui über exakt 15 km war zu Ende, Jaouad Gharib war plötzlich in Führung und hielt diese in souveräner Manier bis ins Ziel.
Doch es waren weniger der Sieg des Altmeisters aus Marokko, als viel mehr die Aktion des Tempomachers, der die zweiten 15 km mit 44:29 fast genau eine Minute schneller lief als den ersten Part. Auch die 29:09 von 15 km nach 25 km muss man kaum kommentieren. Profitiert hat von dieser Hatz am Ende niemand. Kiptanui wurde aus dem Rennen genommen, Gharib hatte im Finale für das ungleichmäßige Tempo im Mittelteil zu „bezahlen“.
Am Abend nach dem Lauf waren Kiptanui und der Bruder seines Managers noch immer etwas ratlos und hatten keine schlüssige Erklärung für die Geschehnisse in den Mittagsstunden. Dem noch unerfahrenen Kenianer fehlte schlichtweg die Routine für eine solche Aufgabe. Da er bei der abrupten Steigerung des Tempos keinen Kontakt zu den Topathleten hielt, deutet alles auf eine fehlende Vorbereitung auf diese Aufgabe hin. Nach den Irritationen im Vorfeld wollte Kiptanui nach eigener Aussage das Rennen wohl auch nicht durchlaufen, was sein Verhalten aber noch unverständlicher macht.
Aber nicht nur irritierend ist das Verhalten der „Marshalls“ an der Strecke, der mit einer roten Flagge ausgestattet war, damit Läufer über dem Zeitlimit an vorgegebenen Positionen das Rennen beenden. Wer die Sturheit und Penetranz japanischer Offizieller bei der Ausübung derartiger Tätigkeiten kennen gelernt hat, kann ermessen, dass da gnadenlos die Vorgaben umgesetzt werden. Dass dies aber auch am vorderen Ende des Feldes geschieht, ist nicht nur sonderbar sondern höchst bedenklich und verstößt gegen das Regelwerk. Diverse Reaktionen auf diesen Vorfall zeigen, dass der Verfasser dieses Berichts mit seiner Einschätzung nicht allein steht.
Über Tempomacher – in Anlehnung an die Köder bei Hunderennen auch despektierlich als „Hasen“ tituliert – gehen in der Tat die Meinungen auseinander. Der Nutzen bei der Unterstützung der Tempogestaltung ist unbestritten. Ohne die überaus professionelle Hilfe einer ganzen Armada von Pacemakern wären z.B. Hailes Weltrekorde in Berlin vermutlich nicht möglich gewesen. Dabei scheint unbestritten, dass die Tempogestalter auch Teilnehmer des Laufs sind, in dem sie aktiv werden. Das heißt dann aber auch, dass sie wie ALLE Teilnehmer die Chance haben müssen, sich zu platzieren, ggfs. auch zu gewinnen.
Dass dies die Ausnahme ist, hat sich in den letzten Jahren gezeigt, was schon darin begründet ist, dass ein aktiver Tempomacher mehr Ressourcen einsetzen muss, als jene Klientel, die von einem hohen, aber gleichmäßigen Tempo sowie der Schirmung gegenüber äußeren Einflüssen profitiert. Aber in Ausnahmefällen hat der Hase einen besonders guten Tag oder die Favoriten sind indisponiert, so dass das Rennen mit einer Überraschung enden kann. Für den Sport ist ein solcher Ausgang nur gut, da besonders in dieser Situation ein fairer Wettkampf über die Bühne gegangen ist.
Wenn man aber, wie jetzt in Fukuoka geschehen, die Vorgaben, keinen Pacemaker im Ziel zu sehen, kompromisslos umsetzt und die Tempomacher notfalls unter Druck von der Stecke holt, verstößt dies gegen die Regeln eines fairen sportlichen Wettkampfs, bei dem jeder Starter per Definition die gleichen Chancen haben sollte, den Wettbewerb zu gewinnen. Auch der Generalsekretär der „Association of International Marathon and Distance Races“ (AIMS), der frühere Weltklasseläufer Hugh Jones, teilt diese Auffassung: „Wenn ein Athlet gezielt zur (honorierten) Unterstützung anderer Telnehmer eingesetzt wird, kann man das tolerieren, solange er frei in seiner Wahl ist, das Rennen zu gestalten, d.h. auch, es zu beenden.
Wenn Organisatoren aber Sorge dafür tragen, dass er an einer weiteren Teilnahme gehindert wird (und damit auch zu finishen und ggfs. sogar zu gewinnen) verstößt dies eindeutig gegen die Regeln.“ Dem ist an dieser Stelle wenig hinzuzufügen. Der Hase ist dann ebenso wenig Teilnehmer des Wettbewerbs, wie frische Läufer, die erst in einer späteren Phase das Rennen aufnehmen. Im letzteren Fall besteht Konsens, dass derartige Schrittmacherdienste nicht statthaft sind. Ein Unterschied zur organisierten Herausnahme eines Tempomachers besteht diesbezüglich aber kaum.
Für den armen Eliud, der in Fukuoka ein Opfer vielfältiger und unglücklicher Umstände, aber auch seines schier unglaublichen Leistungspotentials wurde, werden auch in Zukunft Flaggen eine besondere Rolle spielen. Wie nämlich in der Woche nach dem Fukuoka-Marathon zu erfahren war, wird Eliud Kiptanui als einer der Topathleten Ende Januar 2011 in Dubai an den Start gehen. Und da wird ihm – dann aber schon beim Halbmarathon – eine überdimensionale auch weitgehend rote Flagge entgegenwehen, die in der Nähe des Wendepunkts ein nationales Monument des Emirats darstellt.
Diese Flagge wird aber mitnichten dazu eingesetzt werden, ihn aus dem Rennen zu nehmen. Weht ihm diese nämlich entgegen, bedeutet dies Rückenwind auf der zweiten Hälfte zum Ziel in der Media City Dubais. Bei seinem Leistungspotential und den in Fukuoka gezeigten Eindrücken könnte er ein würdiger Nachfolger von Haile Gebrselassie nach seinen drei Auftritten beim Dubai Marathon werden. Ob es dann sogar in den Bereich von Hailes Rekordmarke geht, wird sich zeigen. Das Zeug dazu hat Eliud allemal.
Und wenn er dann wieder für Gesprächsstoff sorgt, diesmal aber hoffentlich von der rein leistungssportlichen Seite, dann ist das dem jungen Mann nur von Herzen zu wünschen.
Helmut Winter