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2006

Wer diese Strecke läuft, der kann was erzählen. Ein ganzes Buch der Erinnerungen entsteht nach und nach, wie von selbst. Ich schlage es auf, und die Bilder lassen sich sehen.

Die Marathon-Läufer-Predigt 2006 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche – Pfarrer Klaus Feierabend hielt im Rahmen der traditionellen Ökumenischen Abendandacht die Läufer-Predigt

By GRR 0

Schon legendär ist jeweils die Predigt des laufenden Pfarrers i.R. Klaus Feierabend innerhalb des Oekumenischen Abendgebets in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche , jeweils am Sonnabend vor dem BERLIN-MARATHON um 20.30 Uhr.

Das Gotteshaus am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg – früher kurz hinter dem Zielstrich auf dem Kurfürstendamm – jetzt bei km 33 gelegen, ist seit Jahren immer voll besetzt. Völlig ungewöhnlich für eine Kirche ist es, wenn während der Predigt plötzlich Beifall aufbrandet

Dann hat der Kirchenmann läuferisch-kirchliche Weisheiten der Laufgemeinde präsentiert. Klaus Feierabend lief seinen ersten BERLIN-MARATHON 1980, er gehört mit 21 erfolgreichen Teilnahmen dem BERLIN-MARATHON Jubilee-Club an. Seine ständige Startnummer beim BERLIN-MARATHON ist „210“. Insgesamt absolvierte er bisher 27 Marathonläufe, seine Bestzeit ist 3:11:40. Bei den letzten Läufen konnte er wegen einer Verletzung nicht mehr teilnehmen.

Mit der folgenden Predigt hat er seiner Frau F., die immer in der Kirche in der ersten Reihe saß, ein Denkmal gesetzt. Sie verstarb in diesem Jahr.

Die Begrüssung der Laufgemeinde wird schon seit Jahrzehnten von Pfarrer Knut Soppa (Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche) vorgenommen, den Segen erteilt Pater Joseph Schulte O.F.M. (Kath. Pfarramt Sankt Ludwig, Berlin-Wilmersdorf).
Musikalisch umrahmt wurde das Oekumenische Abendgebet an der Orgel von Helmut Hoeft.

Die Kollekte war bestimmt für behinderte Kinder in der Fürst-Donnersmarck-Stiftung, die damit Sportgeräte finanzieren:
Postbankkonto Nr. 122 76 – 105 (BLZ 100 100 10)
Stichwort: „Marathon-Gottesdienst“.

 

Horst Milde

Liebe Freunde, so darf ich Euch wieder anreden, hier in der Blauen Kirche, am Abend vor dem BERLIN-MARATHON!

Wer diese Strecke läuft, der kann was erzählen. Ein ganzes Buch der Erinnerungen entsteht nach und nach, wie von selbst. Ich schlage es auf, und die Bilder lassen sich sehen. Auch und gerade wenn du nicht mehr aktiv dabei bist und nur noch deine kleineren Trainingsläufe machst, verdichten sich die bildhaften Eindrücke von damals, an den unterschiedlichsten Orten.

Zum Beispiel Frankfurt, vor langer Zeit: Du warest wegen einer Fußverletzung die letzten drei Wochen „ohne“, sonst aber gut drauf und hoch motiviert. Welcher Schrecken, als nach 10 Kilometern ein Läufer kurz vor dir anhielt, anklagend gen Himmel stöhnte und laut zu schreien anfing:

„Aus! Aus! Aus!“ Das hatten wir doch schon einmal gehört, bei einer anderen Sportart? Dieser Läufer hier, besser: Stehenbleiber suchte offensichtlich unseren Trost, wollte uns, zumindest mich zum Stehen bleiben veranlassen. „Weiter“, dachte ich, „vorbei, nur schnell vorbei!“
Nicht vorbereitet sein kann jeder, aber so wie der…

Auch Lauffreundschaften können entstehen, die ein Leben halten müssten, so denkt man einige Stunden lang. In Istanbul, als du die entscheidende Kurve nicht mitkriegtest und im Zug der meist jugendlichen 10-km-Masse dich total fehlleiten ließest, schließlich 5 Kilometer zurückkamest und wild entschlossen warest, diesen Marathon zu Ende zu führen, mit 10 Kilometer mehr in den Beinen und wie auch immer sonst. Dann fandest du einen Leidensgenossen, der genauso darauf brannte, das Ziel zu erreichen, koste es, was es wolle.

Und wie ihr dann den Bosporus rauf und runter „machet“, die Entgegenkommenden heiter bewundert – „da könnten wir jetzt auch schon sein, wo die sind“. Schließlich waren die Straßen dem Autoverkehr freigegeben, und die Taxis fuhren uns beim Linksabbiegen fast die Knie ab. Einmal haute Josef, mein Mitläufer, seine Plastiktasche mit dem Fotoapparat einem Taxi auf die Kofferhaube, dass es nur so krachte. Den Fotos, die er während unseres gemeinsamen Kurses immer wieder machte, hat es nicht geschadet.

Köstlich und unvergessen.

Oder bei uns in Berlin-Spandau, Marathon an der Mauer entlang, im Naturschutzgebiet Eiskeller, zweimal hin und zurück. Ich lief hinter einem Dreierpack gleichgrün gekleideter stämmiger Athleten, ich schätze mal: Fußballer.

Lange Zeit, 20 Kilometer, ich immer dicht hinter ihnen. Dann fielen zwei von ihnen ab. Verdampften auf dem Asphalt.

Und beim letzten Wendepunkt entkam ich dem Dritten und wurde immer schneller. Bei Kilometer 40 aber schaue ich mich mal um, da liegt er hundert Meter hinter mir, was heißt „liegt“, er fliegt.
Zweihundert Meter vor dem Stadion Hakenfelde überholt er mich und beendet seinen Lauf eine halbe Schlussrunde vor mir. Später gehe ich zu ihm hin, er lacht und scherzt mit seinen zwei Kumpels, die auch irgendwie wieder lebendig waren.

Ich gratuliere ihm zu seiner blendenden Zeit und dem gewonnenen Zweikampf. Da erkennt er in mir den Looser von vorhin, legt sein Gesicht in die Maske der unnahbaren Verachtung, schaut durch mich hindurch und sagt – nichts.
Da wusste ich für alle Zeit: Nein, Läufer sind nicht bessere Menschen, dass du nie wieder so einen Quatsch erzählst, Pfarrer!

Läufer sind Lernende. Eigentlich sollte das für alle Menschen gelten. Läufer haben – so meine ich – die besondere, in ihrem Laufwollen und Laufkönnen gegründete Chance, sensibel und aufmerksam das Signal zu vernehmen. Die Botschaft, die sie dazu fähig macht, den Gewohnheitstrott zu unterbrechen.
Ja, die Unterbrechung selbst als Botschaft zu verstehen. Die Botschaft sagt: Alles ist Zufall. Alles Wichtige. Das Wichtige fällt dir zu, geschenkt. …

Ganz ernsthaft möchte ich uns alle „Pilgrims“ nennen. Du bist ein Pilgrim. Ein Pilger auf meditativem Weg. Für Hape Kerkeling – wer kennt ihn nicht – eine urplötzliche Offenbarung: „Ich bin mal eine Weile weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg.“

Dieses Buch kann man lesen, es lohnt sich. Er nennt sich eine pummelige Couch Potato, die mal eben in Badelatschen – die kanadischen Boots hängen pitschnass am Rucksack – die Pyrenäen überquert.
Das war erst der Anfang seines 800 km langen Pilger-Fußweges nach Santiago de Compostela, zum Grab des Apostel Jakobus.

Originalton Hape Kerkeling: „Gestärkt wandere ich weiter und wundere mich nach einer guten halben Stunde über die Leichtigkeit meines Schritts. Irgendwas fehlt. Ein Geräusch. Das schürfende Klackern meines Pilgerstabes auf dem Asphalt ist verschwunden. Na prima.
Ich habe ihn vorhin stehen lassen. Sofort trabe ich im Eilschritt zurück. Was tue ich hier? Bin ich noch gescheit?“

Ich muss Euch gestehen, bei meinem letzten Halbmarathon habe ich was ähnliches gemacht.
Ich bin sozusagen zurückgegangen, nachdem der Vorwärtsschritt schon angesagt war.
Ich hatte meinen Chip vergessen und versuchte verzweifelt und im letzten Moment, mir am SCC-Stand einen neuen zu besorgen. Das gelang schließlich, weil jemand Mitleid mit mir hatte.
Er hätte mir auch eine Glocke umhängen können und wusste wohl sehr genau, was er tat. Nur ich Däumling und Schlafwandler nicht.

Statt zu laufen mit meiner korrekten Startnummer und ohne offizielle Zeitnahme, na und? So schlappte ich dem längst enteilten Massenfeld hinterher, im Grund blieb’s dabei, sogar ein paar tüchtige Power- Walker überholten mich irgendwann.
Und das mir, dem ehemals schnellsten Pfarrer Spandaus.

Ich bin mal eine Weile weg: Für uns ist das eine alltägliche Erfahrung. Oder hast du’s noch nie von dieser Seite betrachtet? Als Marathonläufer ein Pilger zu sein, wie auf dem Jakobsweg? Ich möchte jetzt nicht zu dick auftragen. Ich weiß durchaus, dass ich damit viele, vielleicht auch etliche unter uns nicht erreichen würde, die ihren Marathon als rein sportliche Herausforderung sehen und ihr Training als objektive Voraussetzung dafür nehmen, nicht mehr und nicht weniger. Aber für mich und andere kann ich es nicht anders sehen:

 

Laufen ist mehr, als die Beine im Takt vorwärts zu bewegen.

Ich las als Schüler vor 55 Jahren ein englischsprachiges Buch, das war die Aufgabe. Ich wählte ein sehr ungewöhnliches Werk. John Bunyan, ein puritanischer Laienprediger aus dem 17. Jahrhundert hatte eine umfangreiche Schrift veröffentlicht, mit dem Titel: “The Pilgrim’s Progress from this World to that which is to come, delivered under the Similitude of a Dream.”
,Des Pilgers’ Reise von dieser zur zukünftigen Welt, dargestellt unter dem Sinnbild eines Traumes’.
The Pilgrim’s Progress, des Pilgers’ Weg zum Ziel. Ein erster sehr englischer Entwicklungsroman.
Es galt, den Weg zu finden, den Weg des Heils, nach und nach, wie durch wachsende Ringe. Ein Reifeprozess war nötig in der Kunst der Selbsteinschätzung.

Warum erzähle ich das? Weil mir aufgefallen ist, dass wir alternden Läufer und Läuferinnen – vielleicht die Männer mehr als die Frauen – eine fast ungeschützte Schwachstelle haben. Wir schätzen unsere vor uns liegenden Laufchancen falsch ein. Wir rechnen fest mit der Überbietung der Vorjahresleistung, „wenn alles normal läuft“, so unsere Rede. Eine Weile, ein paar Jährchen kann das gut gehen, wenn alles „unnormal“ läuft. Dann aber nimmer. Ich habe das bei mir beobachtet und natürlich bei vielen anderen.

Wenn ich mal das Sprichwort auf den Kopf stellen darf:
„Torheit schützt vor Alter nicht.“ Letztens sagt ein über 80-Jähriger, also greiser Trotzkopf beim Halbmarathon, nach acht Kilometern der ihm auflauernden Reporterin: „Ich liege voll in der Zeit, es geht alles wunderbar.“ Als ob er nichts ahnte von der krass zunehmenden Langsamkeit auf den nächsten acht Kilometern und ihrer Vervielfachung auf den letzten fünf.

Die mir zugedachte Zeit treu zu verwalten, in jeder Phase des Laufes zu wissen, wo ich bin und mich einzustellen auf die Bewältigung des noch vor mir liegenden Weges, meine Kräfte innerhalb der zugeteilten Zeit angemessen zu verwirklichen: das ist das Lernziel of the Pilgrim’s Progress.

Meiner wunderbaren Frau F. habe ich dafür ein Denkmal gesetzt, tief in mir. Sie konnte übrigens einstmals tatsächlich und im Sinne des Wortes laufen, unzählige Male mit ihrem Frauenlauftreff in der Kirchengemeinde, neben mir im Wald und auf Feldwegen und auf der Bahn oder bei ihren Avon-Läufen im Tiergarten. Aber sie konnte mehr noch. Sie konnte das Lebens-Lern-Ziel erreichen, schon zu Lebzeiten.

Am Ende wartete sie nur, ich ahnte kaum, worauf.

Als alles gut war und die Zeit erfüllt, da lief sie ins Ziel, ohne Hektik, gelassen und befriedigt. Willig und frei, freiwillig ging sie durch den Vorhang und über die Schwelle.
Ich schaue ihr hinterher, mein Restleben lang.

Wie hat sie das gemacht, das möchte ich auch können, für mich selber und den anderen zu Gute.
Ohne sie, meine Frau F., war ich nie hier in der Blauen Kirche, seit 20 Jahren. Niemand hat mein Marathon-Leben so lückenlos begleitet, so zugewandt und so kritisch, wie sie. Sie gehört zu mir, ich gehöre zu ihr.

Aber auch Euch will ich nahe bleiben, solange das vernünftig und annehmbar ist. Nach zwei Jahrzehnten darf ich das mal so aussprechen.

„Du aber wirst morgen laufen können, ohne müde zu werden, wenn du eine einfache Regel befolgst:
Laufe mit Deinem Atem, laufe ihm nicht davon.
Du musst laufen, um herauszubekommen, was das heißt.“

 

AMEN

 

Pfarrer Klaus Feierabend


Die Predigt wird jeweils im Ergebnisheft des BERLIN-MARATHON publiziert.

author: GRR

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