Coghlan zündete noch schnell einen kleinen Nachbrenner, und weg war er. Die Siegerzeit betrug 13:28,53 Minuten, den letzten Kilometer durchmaß er durchaus königlich in 2:24,76 Minuten.
Die I. Weltmeisterschaften der Leichtathletik in Helsinki 1983 – Robert Hartmann schreibt über die 5.000 und 10.000 m – Werner Schildhauer zweimal Zweiter – Thomas Wessinghage wird Sechster – Der läuferische Rückblick – Teil II
Am 15. August beginnen die 12. Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin. Es ist das größte Sportereignis auf deutschem Boden in diesem Jahr und der Saisonhöhepunkt eines Sports, der die Extreme bündelt. Die Leichtathletik mit ihren 47 Disziplinen gilt immer noch als der wichtigste Kernsport des olympischen Programms. Kein anderer Sport bringt Sieger aus so vielen verschiedenen Ländern hervor wie sie. Andererseits leidet sie besonders unter den Phänomenen der Moderne wie Kommerzialisierung oder Doping.
German Road Races (GRR) wird in loser Reihenfolge über einigeehemalige Aushängeschilder der deutschen Leichtathletik berichten, um "Appetit" auf die 12. IAAF Weltmeisterschaften der Leichtathletik zu machen!
Was war es, was hatte sich Thomas Wessinghage vorwerfen können? Der sechste Platz im 5000-m-Lauf konnte den Europameister ja nicht zufriedenstellen. Wenn die großen Tenöre singen, steht der 31 Jahre alte Arzt sonst in der ersten Reihe, und noch fünf Wochen vor dem mißlungenen WM-Auftritt hatte er im Bislett-Stadion von Oslo den siebentausend Zuschauern durch den Lautsprecher zugerufen: »Wenn Sie hier die Finger kreuzen, wird es schon klappen in Helsinki.«
Optimismus braucht sich niemand vorwerfen zu lassen. Aber sonst? Eigentlich nichts. Wessinghage hatte sich von November bis Mitte Mai im klimatisch günstigen Klima von Kalifornien aufgehalten. Er hatte seine Familie mitgenommen, ein Haus gemietet, sich in der Orthopädie weitergebildet, so daß er nicht ständig »an den nächsten Endlauf zu denken brauchte«.
Wieder im europäischen Sommer, war er keinem harten Rennen aus dem Wege gegangen, er wiederholte den gleichen Wettkampfrhythmus, der ihn ein Jahr davor wie selbstverständlich auf den Gipfelpunkt seiner Laufbahn geführt hatte.
Es ist unbefriedigend, sich nichts vorwerfen zu können, oder? Man hängt in der Luft und flattert von einer Frage zur anderen und tut gut daran, irgendwann das Unvermeidliche hinzunehmen. Einfach zu akzeptieren. Wessinghage gewann die 5000 Meter beim Europapokal-Endkampf in London. Seine Muskeln waren dort locker, wo sie in Helsinki kein Blut mehr durchließen. Der Sprung nach vorn stellte sich eine Woche zu spät ein.
Dies sind die Unwägbarkeiten, welche die glorreiche Ungewißheit des Sports ausmachen. Glorreich? Auf dem Rücken irgendeines Sportlers muß der Triumph des Siegers ja ausgetragen werden.
Weltmeister wurde, nachdem der bisher unbekannte Dimitri Dimitriew einen fürchterlich langen Spurt über 900 Meter hinweg angezogen hatte, der 31 Jahre alte Ire Eamonn Coghlan, eher bekannt als Meilengenie bei den amerikanischen Hallenmeetings. Der erste Platz bescherte ihm seine erste internationale Medaille, so oft er auch 1976 in Montreal und 1980 in Moskau Mitfavorit bei Olympischen Spielen gewesen sein mochte.
Hier tat er plotzlich so, als seien Siege auf der höchsten Ebene neckische Katz-und-Maus-Spiele. Den Westdeutschen wußte er seit seinem Durchschalten in den zweithöchsten Gang 350 Meter vor dem Zielstrich schon abgeschlagen. Er folgte Dimitriew leichten Herzens, und als er ihn passierte, um die große Parade vor der Haupttribüne abzunehmen, blickte er ihm von der Seite her aufreizend ins Gesicht und redete auf ihn ein. Sollte jetzt nicht die Sinnfrage nach dem inneren Wesen eines Gentleman gestellt werden?
Coghlan zündete noch schnell einen kleinen Nachbrenner, und weg war er. Die Siegerzeit betrug 13:28,53 Minuten, den letzten Kilometer durchmaß er durchaus königlich in 2:24,76 Minuten.
Hinter ihm überschlugen sich ab 4997 Meter noch einmal die Ereignisse. An dem verdutzten Russen drückte sich zuerst Werner Schildhauer aus Halle vorbei, und auf den letzten Drücker kam im verzweifelten Hechtsprung auf Hüfthöhe auch noch der Finne Martti Vainio angeflogen. Keine 15 Zentimeter trennte das den letzten Tropfen opfernde Trio. Für Dramatik war gesorgt.
Schildhauer feierte sein Silber, es war sein viertes, das er sich in Athen und Helsinki erworben hatte. Allerhand für den Dynamo, dessen in die Wiege gelegten Gaben von seinem Trainer Walter Schmidt mal mit »Untalent« beschrieben worden waren. Bei Schildhauer reimt sich aber auch alles zusammen: Fleiß, Schweiß und Preis.
Kleine grüne Männchen ohne Luft
Die Europäer im 10000-m-Finale wußten, was sie von sich zu halten hatten. Aber wie würden die kleinen grünen Männchen dazwischenfunken, die Leichtgewichte aus Äthiopien? Der doppelte Olympiasieger Miruts Yifter war nur noch in der Delegation mitgereist, als Fachmann des langen Atems, auch als Glücksbringer. Wohl sollte er Mohammed Kedir und Bekele Debele auf die seit Jahren praktizierte Taktik einschwören.
In den Anfängen des Rennens unternahmen die zwei auch hin und wieder die erwarteten Temposteigerungen, doch trauten sie sich offenbar selbst nicht über den Weg. Ihr Wagemut versteckte sich dann bald in einem dichten Pulk, aus dem lediglich der Portugiese Fernando Mamede und Alberto Salazar schon herausgefallen waren.
Der Hallenser Werner Schildhauer zog schließlich als Erster aus einem zwölfköpfigen Rudel heraus, 450 Meter vor dem Ziel, wie vom Katapult geschleudert los. Das wollte sich der Elektronik-Facharbeiter nicht noch einmal nachsagen lassen: daß er wie bei den Europameisterschaften '82 leichtfertig und -sinnig auf einen zu kurzen Sprint setzen und verlieren würde. Und das niedrige Profil, mit dem ihn damals der unauffällige ltaliener
Alberto Cova in Sicherheit gewiegt hatte, kannte er inzwischen zu gut, um noch darauf hereinzufallen.
Der Umkehrschluß hieß: Den Gegner zum Offenbarungseid zwingen! Schildhauer rannte los, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, und sein Landsmann Hansjörg Kunze schloß sofort zu ihm auf, und damit war allerdings die Lücke zwischen Vordermann und Pulk wieder notdürftig geschlossen.
»Offen bleibt die Frage«, hob am nächsten Tag das »Deutsche Sportecho« aus Ostberlin den Zeigefinger, »was geschehen wäre, hätte der Rostocker nicht als erster das bei 9600 Meter aufgerissene Loch zwischen Schildhauer und dem Feld zu stopfen versucht. Wie bei der Rad-WM 1960 auf dem Sachsenring Schur für Eckstein bremste, so lief dieses Rennen nicht …« Kunze mußten die Ohren klingen.
Schnauzbart Cova wird von seinen Landsleuten als organisiert, ruhig und zurückhaltend geschildert. Er ist ein Lombarde aus dem Norden. Vorne stürmte Schildhauer davon, und Cova bog erst als Fünfter um die zweite Kurve herum. 150 Meter vor dem Schlußstrich schlossen die italienischen Journalisten auf der Pressetribüne die Augen, mama mia, heute findet er nicht die richtige Übersetzung.
Aber als sie sie wieder öffneten, schrien sie auf, weil Cova aus seinen zusammengekniffenen Augenwinkeln heraus die kürzer werdenden Schritte der beiden im blauen Trikot wahrgenommen hatte, und fünf Meter vor dem Ziel stürmte er an ihnen vorbei, die ungläubig zu ihm hinüberblickten.
Millimeterläufer« heißen die Typen, die nur einen Atemzug lang an der Spitze zu sehen sind: Es ist der Atemzug, der sie zum Sieg führt.
Das Rennen war nicht schnell. 28:01.04 Minuten für die Nummer eins. Henry Ronos Weltrekord blieb unangetastet. Seit 1978 steht er bei 27:22,5 Minuten. Der Kenianer fehlte. Er wolle nicht für die Funktionäre laufen, sagte er. Eine eigenwillige Begründung.
Christoph Herle belegte, den Schreck eines Sturzes nach dem Startgerangel kaum verdaut, Platz acht. Schon seine Endlaufteilnahme hatte ihm eine unverhoffte Reputation gesichert, zumal der Architekt aufgestellt worden war, obwohl er die gewünschte A-Norm von 28:03 Minuten nie erreicht hatte.
Hinter ihm atmeten schwer: die Kedir, Debele, Mamede, der den ersten Vorlauf noch in 27:45,54 lockeren Schrittes gewonnen hatte, und Salazar.
Robert Hartmann – Die I. Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Helsinki – 7. – 14. August 1983
5.000 m (14.08) 1. Eamonn Coghlan (IRL) 13:28,53 – 2. Werner Schildhauer (DDR) 13:30,20 – 3. Martti Vainio (FIN) 13:30,34 – 4. Dimitri Dmitrijew (URS) 113:30,38 – 4. Doug Padilla (USA) 13:32,08 – 6. Thomas Wessinghage (D) 13:32,46 – 7. Wojado Bulti (ETH) 13:34, 03 – 8.Dietmar Millonig (AUT) 13:36,08
10.000 m (9.08.) 1. Alberto Cova (ITA) 28:01,04 – 2. Werner Schildhauer (DDR) 28:01,18 – 3. Hansjörg Kunze (DDR 28:01,26- 4. Martti Vainio (FIN) 28:01,37 – 5. Gidemus Shahanga (TAN) 28:01,93 – 6. Carlos Lopes (POR) 28:06, 78 – 7. Nick Rose (GBR) 28:07,53 – 8. Christoph Herle (D) 28:09,05
PATRIZ ILG – Am Anfang der Zukunft – Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung – PATRIZ ILG 1983 erster Weltmeister im Hindernislauf – Ein läuferischer Rückblick – Teil I.
PATRIZ ILG – Am Anfang der Zukunft – Michael Gernandt – Ein läuferischer Rückblick – Teil I.