Äthiopiens Weltklasseläufer waren schon immer zum Laufen gezwungen. Durch neuen Reichtum gerät die Überlegenheit in Gefahr.
Die heile Welt der schlechten Straßen – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung
Meseret Defar steht vor der wilden Landschaft ihrer Kindheit und zeigt ins Tal, in das aus schwarzem Fels eine Quelle springt. Dort, wo kein Weg ist, ist sie einst gelaufen, über Steine und grobes Gras, um für die Familie Wasser zu holen. Und in den Eukalyptus-Wald, der damals noch nicht den Ausläufern der wuchernden Millionenstadt Addis Abeba zum Opfer gefallen war, lief sie, um Brennholz zu suchen.
Sie lief auch auf den zerklüfteten Pfaden, welche die Hütten aus Holz und Erde säumten, barfuß und um die Wette mit den Kindern der Nachbarschaft. Sie lief, weil sie berühmt werden wollte wie Derartu Tulu aus Bekoji, von deren Olympiasieg sie im Radio gehört hatte, als sie acht Jahre alt war. Sie lief, obwohl ihre Eltern das für ein Mädchen nicht schicklich fanden. Sie lief, bevor ihre Brüder zur Schule gingen, damit sie deren Schuhe benutzen konnte. Sie lief, nachdem sie die Aufgaben im Haus, welche die Mutter ihr auftrug, eilig erledigt hatte. Es stimmt, sagt Meseret Defar, 23, ihre Kindheit war eine, die im Laufschritt verging.
Bis sie eines Tages ihren Traum eingeholt hatte. Olympiasieg, Weltrekord, Reichtum. Und nun schaut Meseret Defar mit gemischten Gefühlen auf ihr geliebtes verfluchtes Land, das sie zu jener Zeit quälte, aber sie gleichzeitig so stark gemacht hat, wie sie heute ist.
49 Prozent Arbeitslosigkeit und eine schwindelnd hohe Aids-Rate
Wenn die Armut überhaupt einen Vorzug hat, dann jenen, dass sie ein Ansporn ist, ihr zu entkommen. Äthiopien ist arm, und weil es arm ist, ist es reich. Das ist ein unmögliches Urteil, aber auf einer Reise zu den Läufern dieses weiten ostafrikanischen Landes kann man leicht dazu kommen. Es ist eine tröstliche Reise. Sie scheint zurückzuführen zur Natur menschlicher Bewegung jenseits von Doping und Betrug. Sie lenkt ab von den Problemen des schwarzen Kontinents mit Krieg und Hunger, die auch Äthiopien kennt mit seinem 70-Millionen-Volk, 49 Prozent Arbeitslosigkeit und einer schwindelnd hohen Aids-Rate. Die Reise zeigt ein starkes Afrika.
Keine andere Nation hat den Langstreckenlauf bei Weltmeisterschaften und Olympia derart dominiert wie Äthiopien. Ein Äthiopier war der erste Afrikaner, der den Bonzen des Nordens zeigte, dass der schwarze Kontinent auch überlegen sein kann: Abebe Bikila, Leibwächter des Kaisers Haile Selassie, der den Olympiamarathon von Rom 1960 barfuß gewann.
Und heute beherrschen Bikilas Nachkommen die 5000- und 10.000-Meter-Rennen: Meseret Defar und Tirunesh Dibaba führen die jüngste Generation äthiopischer Siegläuferinnen. Kenenisa Bekele, Nachfolger des Nationalhelden Haile Gebrselassie, hat mit 25 schon alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Sie alle kommen aus der Armut.
Ohne Armut wüsste auch der Doktor nicht, wo seine Läufer stehen: Doktor Woldemeskel Kostre, Äthiopiens welterfahrener Leichtathletik-Cheftrainer, 58, ein Mann mit Stolz und Witz und einem abgeschlossenen Studium der Sportwissenschaften, das er einst aus Budapest mitbrachte.
Er geht am Stock. Er ist etwas fahrig. Er strahlt eine großväterliche Gelassenheit aus. Er hat nichts, was an einen Despoten erinnerte, und doch ist er einer. Sein Training ist berüchtigt. Haile Gebrselassie nennt es ,,militärisch‘‘ und für den Nachwuchs zu streng. Er hat es einst selbst erleiden müssen.
Kenia ist der große Rivale
Kostre sagt: ,,Ich weiß, warum ich hart bin.‘‘ Härte ist für ihn die Voraussetzung für Disziplin, und Disziplin die Voraussetzung, um ein guter Athlet zu sein. Deshalb mag der Doktor auch die Härten des Lebens und betrachtet mit Skepsis die Errungenschaften aufgeklärter Gesellschaften, die Freiheit, die Demokratie, die so genannte Zivilisation. Zumindest, wenn es um Leichtathletik geht.
Vergnügt blickt er auf Kenia, den südlichen Nachbarn und den alten Rivalen, der auf der Bahn zuletzt meist das Nachsehen hatte. Einzelinteressen schwächen dort die Elite, Manager haben zu viel Einfluss. Die Besten folgen dem Ruf der Petrodollars nach Katar oder Bahrein, und die anderen verlieren ihren Trainingseifer zu leicht an den Ehrgeiz, ihr Preisgeld gewinnbringend anzulegen. ,,Da gibt es zu viel Demokratie für die Athleten‘‘, sagt der Doktor, ,,wenn der Ruhm kommt, bringt die Demokratie Müßiggang. Wir in Afrika wissen manchmal nicht, wie man mit der Demokratie umgeht.‘‘
Also bestimmt er, wie viel Freiheit es für Äthiopiens Läufer gibt, und die Läufer folgen ihm, weil sie wissen, dass es am besten so ist für sie. ,,Es ist eine Verpflichtung, die wir selbst gewählt haben‘‘, sagt Sileshi Sihine, der WM- und Olympia-Zweite über 10.000 Meter. Namen und Titel spielen keine Rolle, Teamgeist und Nationalgefühl sind die Stützen des äthiopischen Leichtathletik-Systems.
Wer der Nationalmannschaft angehört, muss in Addis Abeba leben und das Verbandstraining besuchen, bei dem sich regelmäßig um die 40 Nationalläufer treffen. Addis Abeba liegt über 2000 Meter über dem Meer, das Sportlerleben hier ist ein einziges großes Höhentrainingslager, die Temperaturen sind gemäßigt, außerdem gibt es in Addis Abeba die einzige Tartanbahn des Landes, und die umliegende Hügellandschaft Sululta und der Berg Entoto bieten ideale Trainingsgründe.
Von Addis Abeba aus starten Bekele, Meseret Defar und die anderen zu ihren einträglichen Auftritten in der ganzen Welt, aber immer wieder kehren sie zurück. Und sechs Wochen vor Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen verlassen sie die Hauptstadt gar nicht mehr.
Sechs Wochen vor den Großereignissen verbietet ihnen der Verband kommerzielle Starts. Der Nation zuliebe, denn es geht um Medaillen für die Heimat. Die ausländischen Manager der äthiopischen Meister müssen sich fügen, so sehen es ihre Verträge vor. ,,In diesen sechs Wochen gibt es keine Kommunikation mit niemandem‘‘, ruft Woldemeskel Kostre. Der Doktor liebt es, resolut zu sein. ,,Und wenn ein Manager was dagegen hat, beenden wir die Vereinbarung.‘‘
Äthiopien ist dreimal so groß wie Deutschland und seine Landschaft vielfältig. Es gibt hohe Berge mit einer Blumenpracht wie in den Alpen, Savannen, in denen Elefanten und Giraffen leben, üppige Urwälder und dürre Salzsteppen. Nicht jeder äthiopische Boden gibt dasselbe her, und was Äthiopiens Läufer angeht, so kommen sie vor allem aus einem entlegenen, wenige Quadratkilometer großen Gebiet in der Mitte des Landes.
Die Jugend lebt im Einklang mit der Natur
Selbst Meseret Defar ist eine Ausnahme. Sie ist die erste äthiopische Olympiasiegerin, die in Addis Abeba geboren ist. Stadtkinder werden auch in Äthiopien selten Läufer. Die meisten kommen aus dem Hochland der Region Oromiyaa, das man von Addis Abeba durch die karge, heiße Ebene des Grabenbruchs nach fast dreistündiger Autofahrt erreicht. Zwischen den Städten Asela und Bekoji erstreckt sich auf 2400 bis 2600 Metern Höhe fruchtbares, von der Moderne unberührtes Ackerland.
Hier haben die meisten Stars von heute eine Jugend im Einklang mit der Natur verlebt. Die Gerste der Gegend gilt als besonders nahrhaft, Süßigkeiten gibt es nicht außer Zuckerrohr, und den Alltag diktiert die Arbeit. Vom Bauernhaus seines Vaters ist Haile Gebrselassie einst kilometerweit nach Asela in die Schule gelaufen. Und in Aselas Stadion hat er die ersten Proben seines Talents abgelegt, genauso wie Kenenisa Bekele und Tirunesh Dibaba, die beide aus Bekoji stammen.
Sie alle dürften einst so ausgesehen haben wie die Kinder, die man an der holprigen Sandpiste von Asela nach Bekoji trifft. Es ist Regenzeit, auf der morastigen Straße ziehen berittene Bauern mit ihrem Vieh zum Markt von Sagure, dem Geburtsort der Marathon-Olympiasiegerin Fatuma Roba. Über die Wiesen laufen Jungs in abgerissenen Kleidern, die nackten Füße knöcheltief im Schlamm.
Später marschieren Mädchen vorbei, die auf ihrem Weg zum Kühehüten ab und zu ein paar Laufschritte einlegen. Und ein Junge läuft dem Auto mit den Ausländern hinterher. Es ist, als sei das Laufen ihr Spiel, das die unbefestigte Straße begünstigt. ,,Die Straße ist immer noch schlecht‘‘, sagt Haile Gebrselassie, ,,das ist gut für die Athleten.‘‘
Haile Gebrselassie, 34, zweimaliger Olympiasieger und 22-maliger Weltrekordler, sitzt im cremefarbenen Dekor seines Büros in Addis Abeba. Die Stadt liegt acht Stockwerke unter ihm, das Hochhaus ist der Sitz seiner Immobilienfirma Haile&Alem International, die er nach seinen ersten großen Erfolgen mit seiner Frau gründete und mittlerweile zu einem kleinen Imperium mit 400 Angestellten ausgebaut hat.
Gebrselassie lacht viel. Aber er ist auch ein nachdenklicher Mann und er ahnt, dass den äthiopischen Läufern eines Tages ein schmerzhafter Wandel bevorstehen könnte. Er kennt die Gründe des Erfolgs: das milde Klima, die Höhe, die Gerste, die strenge Verbandspolitik, die demnächst auch vier regionale Trainingszentren vorsieht – aber vor allem: die Armut. Er weiß, wovon er spricht. Er hat seine Jugend in Asela nicht vergessen. ,,Das Leben ist eine Art Training dort‘‘, sagt er.
„Die Zivilisation kommt, aber wir werden alle verdorben“
Äthiopien verändert sich, Addis Abeba ist in den vergangenen zehn Jahren enorm gewachsen. Überall wird gebaut, viele Unternehmen aus dem Ausland investieren. Ein neuer Reichtum kommt ins Land, und dieser Reichtum könnte für Äthiopiens Leichtathletik-Ambitionen zum Problem werden. ,,Die Zivilisation kommt, aber wir werden alle verdorben‘‘, sagt Doktor Kostre.
Und Haile Gebrselassie gibt ihm recht, mit leisem Bedauern. Er sieht es doch an seinen Kindern. Neulich hat seine kleine Tochter gesagt, sie wolle nach seinem Vorbild eine große Läuferin werden. Haile Gebrselassie lächelt. ,,Ehrlich gesagt, sie kann keine gute Läuferin werden.‘‘ Sie ist ein verwöhntes Stadtkind. Sie wird im Auto zur Schule gefahren. Sie muss um nichts kämpfen, und Haile Gebrselassie will es auch gar nicht anders. Es ist ein heikles Thema für ihn.
,,Ich will den Leuten ja kein schlechtes Leben aufdrängen‘‘, sagt er. Aber die Wahrheit ist, dass die Kinder der neuen reichen Äthiopier keinen Grund mehr haben werden, um ein besseres Leben zu laufen. Und dass die vielen anderen Äthiopier, die dem Boom nicht folgen können und arm bleiben, den Raum verlieren, den sie brauchten, um um ein besseres Leben zu laufen.
Als Meseret Defar ein Kind war, lag ihr Stadtteil im Wald. Jetzt liegt er eingebettet in ein Meer aus neuen Häusern. An ihrer alten Schule klagt der Direktor über das rasante Wachstum: 2000 Schüler lernten in seinen düsteren Klassenzimmern zu Meserets Zeiten, jetzt sind es 4500.
Und besorgt schaut Haile Gebrselassie auf die Straße nach Bekoji. Von Norden naht der Fortschritt, genauer gesagt die Asphaltwalze. Meter um Meter deckt sie den schönen weichen Sand zu. Sie ist schon in Asela. Eines Tages wird sie Bekoji erreicht haben. Mehr Autos werden kommen, sie werden schneller sein als bisher. Und dann könnte es ein lebensgefährliches Spiel werden, an der Straße entlang zu laufen.
Thomas Hahn
Süddeutsche Zeitung
13. Juni 2007