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19
02
2007

Da muss man fragen: Wo kommen die kleinen Leichtathleten her? Vom genetischen Potential her sind sie über ganz Deutschland verteilt, sagt U-18-Bundestrainer Uwe Mäde. Sie müssen nur Vereine finden. Das ist die Sicht des Westens. Die des Ostens heißt: Die Eliteschulen müssen sie finden ...

Die Diskussion um Eliten am Beispiel der Leichtathletik – Ost und West vereint – im Mittelmaß – Systemstreit produziert keine Sieger – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)

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LEIPZIG. Von der deutschen Leichtathletik kommen gute Nachrichten. \“Es gibt Nachwuchs\“, sagt Bundestrainer Jürgen Mallow, \“und er drängt nach vorn.\“ Bei der deutschen Meisterschaft in der Arena von Leipzig soll er den Etablierten Beine machen. Längst hatte sich der Eindruck verfestigt, dass bei den Läufern, Springern und Werfern, wenn sie denn überhaupt erfolgreich sind, vor allem die Alten die Medaillen holen. Ein Abbild der Gesellschaft, die dem demographischen Kopfstand entgegenaltert.

Da muss man fragen: Wo kommen die kleinen Leichtathleten her? \“Vom genetischen Potential her sind sie über ganz Deutschland verteilt\“, sagt U-18-Bundestrainer Uwe Mäde. \“Sie müssen nur Vereine finden.\“ Das ist die Sicht des Westens. Die des Ostens heißt: \“Die Eliteschulen müssen sie finden.\“ Was in der alten Bundesrepublik die leichtathletischen Hochburgen von Fürth über Leverkusen und Wattenscheid bis Hannover sind, sind auf dem Gebiet der früheren DDR die einstigen Kinder- und Jugendsportschulen. Die deutsche Leichtathletik hat wie der deutsche Sport zwei Nachwuchssysteme.

Dem Unterschied im System liegt der in der Mentalität zugrunde – oder ist es umgekehrt? Jedenfalls konstatiert Frank Lehmann, Hochschuldozent und Leiter der Forschungsgruppe Wurf und Stoß am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig, ein unterschiedliches Verständnis von Leistungssport in Ost und West. Die neuen Bundesländer einschließlich Berlin unterhalten 21 von vierzig dieser staatlichen Eliteschulen. Deren Akzeptanz, besonders der des Internatsbetriebs, ist nicht nur bei Kindern und Eltern, sondern auch bei Politikern höher als im Westen. Sogar Trainingsumfänge und damit Leistungssteigerungen seien größer, bestätigt Mäde.

Der Mentalitätsunterschied schlug in eine ideologische Konfrontation um, als Bernhard Schwank, Leistungssportdirektor im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), im November im Sportausschuss des Bundestages sagte, dass die Medaillengewinner bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften überwiegend nicht die seien, die der deutsche Sport in seinen Nachwuchsteams fördere.
\“Je jünger, desto erfolgreicher ist Deutschland, je älter, desto weniger erfolgreich\“ folgerte er und stellte auch gleich die Eliteschulen zur Diskussion. Das war wie ein Zündfunke am Pulverfass, gelten die einstigen Kinder- und Jugendsportschulen doch seit Emil Becks Modell Tauberbischofsheim und erst recht seit der deutschen Einheit als Exportschlager des Ostens.

Zwei Drittel der 48 Medaillen bei den Olympischen Spielen Athen 2004 verdanke der deutsche Sport den Eliteschulen, rechnen deren Befürworter vor. Was allerdings die Leichtathletik betrifft, war just Athen mit lediglich zwei Silbermedaillen der Kugelstoßerin Nadine Kleinert und der Speerwerferin Steffi Nerius der Tiefpunkt. Dabei hätte es ganz anders kommen sollen. Vier Jahre zuvor gewannen die deutschen Junioren bei ihrer Weltmeisterschaft in Santiago de Chile drei Titel und neun weitere Medaillen. Einen Olympiazyklus später war von den Siegertypen nichts zu sehen. \“Da klemmt die Säge\“, konstatiert Lehmann.

Meisterschaften für den Nachwuchs, von der Landesmeisterschaft für die B-Jugend bis zur U-18-Weltmeisterschaft, erscheinen Fachleuten als schädlich, denn sie fördern die frühe Spezialisierung in Training und Wettkampf. Diese verhindert eine langfristige athletische Entwicklung, macht anfällig für Verletzungen und raubt früh erfolgreichen Startern ihren Siegeshunger.

An der Schwelle zur Seniorenklasse ist oft Schluss mit dem Leistungssport. Lehmann schlägt deshalb vor, den Nachwuchs auch materiell zur Vielseitigkeit zu lenken. In Sachsen etwa werde nur in den Landeskader aufgenommen, wer Mehrkämpfe bestreite: Kugelstoßer müssen über Hürden sprinten, Hochspringer müssen den Diskus werfen. \“Wenn das so super wäre\“, räumt der Experte ein, \“müssten allerdings mehr Sachsen in der Weltspitze sein.\“

Ernüchternd klingt auch die Bilanz für den Rest der Republik. Nachwuchssport, der außerhalb der Leistungszentren im Westen stattfinde, sagt Bundestrainer Mäde, sei generell Hobbysport. Sein Chef Mallow resümiert positiv: \“Es gibt für beide Systeme den Nachweis, dass sie Spitzenathleten ausbilden können.\“ Immerhin:
n die Nationalmannschaft wie zur deutschen Meisterschaft drängen nun aus dem Westen ebenso viele wie aus dem Osten. Das ist nicht unbedingt ein positiver Befund. \“Wir haben hier jetzt auch die Kinder, die sie in der Bundesrepublik schon vor fünfzehn Jahren hatten\“, sagt der Leipziger Lehmann.
\“Sie haben sich dem bundesdeutschen Durchschnitt angepasst.\“

MICHAEL REINSCH
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Sonnabend, dem 17. Februar 2007

17.02.2007, F.A.Z., Sport (Sport), Seite 30 – aus D1, D2, D3, D3N, R0, R1

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