Carsten Schlangen - 2008 Olympic Games Beijing, China August 8-24, 2008 Photo: Victah Sailer@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Die deutschen Mittelstreckler – nur noch Hinterherläufer? Dieter Baumann: „Schlicht und ergreifend das, was heute möglich ist“ – Von KLAUS BLUME
Die schönsten Zeiten liegen schon lange hinter uns. Denn die gab‘s für deutsche Mittelstreckler zuletzt vor, sage und schreibe, 41 (!) Jahren.
Damals – an jenem denkwürdigen 27. August des Jahres 1980 – lief Thomas Wessinghage mit 3:31,58 Minuten auf dem Koblenzer Oberwerth zu seinem fabelhaften deutschen Rekord über 1500 Meter. Er ist bis heute unerreicht und wird es wohl auch noch eine ganze Zeit bleiben.
Im nächsten Jahr sollen in München vom 15. bis 22. August die 25. Jubiläums-Europameisterschaften ausgetragen werden. An die zuvor statt gefundenen 24 europäischen Championate denken gerade die deutschen Mittelstreckenläufer nur mit Wehmut zurück.
Gab‘s die letzte Medaille doch vor 21 Jahren. In Barcelona – über 1500 Meter – erlaufen von dem Berliner Carsten Schlangen.
Zählt man großzügiger Weise die langen 5000 Meter noch zum mittleren Laufbereich, hellt sich die Situation ein wenig auf. Denn 2016 in Amsterdam erkämpfte der Überlinger Richard Ringer – inzwischen auch erfolgreich als Marathonläufer unterwegs – über 5000 Meter die Bronzemedaille.
Dieter Baumann, immerhin Olympiasieger (1996) sowie Europameister (1994) über 5000 Meter, sagt dazu:
Olympiasieger Dieter Baumnn – Foto: Norbert Wilhelmi
„Die Zeiten und Medaillen von einst und jetzt lassen sich wirklich nicht miteinander vergleichen, weil wir nun einmal in einer ganz anderen Zeit leben. Was die deutschen Läufer derzeit erbringen, ist nun einmal schlicht und ergreifend das, was im jetzigen Rahmen zu ermöglichen ist.“ Dieses nur noch ziemlich Mögliche drückt sich – in Zahlen – allerdings auch ziemlich besorgniserregend aus. Versuchen wir es, von Disziplin zu Disziplin.
800 Meter: In Europa rangierten in dieser zu Ende gegangenen Saison die schnellsten Deutschen, Marc Reuther (1:44,71 Minuten), an 13. und Marvin Heinrich (1:45,49) erst an 30. Position. Doch unter den besten 30 Europäern finden sich gleich gleich 8 Briten! Das erinnert an die glorreichen Zeiten von Coe & Co. An der Spitze steht mit 1:43,73 Minuten jedoch der schnelle Pole Patryk Dobek, übrigens ein gelernter 400-Meter-Hürdenspezialist. Und die Deutschen? Heute hintendran, aber zur Erinnerung etwas, dass die Seele wärmt: Von 1938 (Rudolf Harbig) bis 1998 (Nils Schumann) gab es bei Europameisterschaften für deutsche 800-Meter-Spezialisten gleich siebenmal Gold! Der Erfurter Manfred Matuschewski triumphierte sogar zweimal nacheinander auf: 1962 und 1968. Wichtig aber auch: Mit seinem Deutschen Rekord von 1:43,65 Minuten aus dem Jahr 1983 wäre Willi Wülbeck sogar in dieser gerade beendeten olympischen Saison noch schnellster Europäer geworden – und das mit Abstand!
Dieter Baumann sagt zu alledem: „Dennoch bleibe ich dabei: Weil Zahlen nicht alles belegen können – man auch sehen, wie sie erlaufen. wurden: Unsere derzeitigen Spitzenläufer haben sich im Olympiajahr 2021 gar nicht mal so schlecht geschlagen, wie es auf den ersten Blick erscheint.“ Die Meinung von Germanroadraces: Eine Medaillen-Messe für deutsche 800-Meter-Läufer wird es bei den Europameisterschaften 2022 in München aber nicht geben (können).
1500 Meter: Weil kein Ostafrikaner, sondern der Norweger Jakob Ingebrigtsen (3:28,32 Minuten) die Weltrangliste in dieser olympischen Disziplin dominiert, entscheidet der skandinavische Ausnahmeathlet auch in Europa die wichtigen Läufe für sich. Die besten Deutschen unter den schnellsten dreißig Europäern waren in diesem Jahr mit 3:33,64 Minuten der Leipziger Robert Farken auf Platz 19 und Marius Probst aus Wattenscheid (Nummer 27 mit 3:35,68 Minuten). „Wobei die gelaufenen Zeiten besser als ihre Platzierungen in den Bestenlisten sind“, stuft Baumann Beide ein. Vor allem Farken imponiert dem Europameister von 1994 (5000 Meter), wenn gleich dieser bei Olympia als enttäuschender Achter frühzeitig im Halbfinale ausgeschieden ist. Vor allem, weil sich Farken durch allerlei Widrigkeiten und Verletzungen durchgebissen hat; zum Beispiel, als er nach einem Ermüdungsbruch das Lauf- ideenreich durch Schwimmtraining (!) ersetzt hat. „Hut ab“, sagt Baumann.
Sechs Medaillen sammelten deutsche Mittelstreckler bisher bei europäischen Titelkämpfen über 1500 Meter. Drei von ihnen gewannen sogars Gold: Bodo Tümmler (1966), Klaus-Peter Justus (1974) und Jens-Peter Herold (1996).
Was wird 2022 in München sein? Wohl die große Enttäuschung?
5000 Meter: Machen wir uns nichts vor – es war einmal DIE deutsche Paradedisziplin. Ob für die ehemalige DDR oder die Bundesrepublik startend, setzten sich Harald Norpoth, Bernd Dießner, Manfred Kuschmann, Thomas Wessinghage, Werner Schildhauer, Dieter Baumann, Arne Gabius und Richard Ringer bei europäischen Championaten stets mit glänzenden Medaillen in Szene. Zuletzt Richard Ringer 2016 in Barcelona.
Richard Ringer – Foto: www.photorun.net – 2016 Olympic Games – Rio De Janeiro, Brazil August 12-21, 2016 Photo: Victah Sailer@PhotoRun
Doch jetzt gehören der Dortmunder Mohamad Mohumed (Nummer 12 mit 13:17,04 Minuten) und der Deutsch-Amerikaner Sam Parsons (21. mit 13:23,30 Minuten) nur zu jenen, die stets den anderen Europäern erfolglos hinterher laufen. „Doch im Falle Mohamed Mohumed könnte sich das bald ändern“, sagt Baumann. „In diesem Jahr war er in Tallin bereits U23-Europmeister, und bei seiner Schnelligkeit über 1500 Meter müsste er sich auf der 5000-Meter-Distanz bald den 13:10 Minuten nähern. Und damit kann er schon etwas bei den Großen erreichen.“
Das ist mehr als ein Lichtblick! Der erst 22jährige könne sich zumindest dorthin entwickeln, wo der Hamburger Mediziner Arne Gabius (2012 EM-Zweiter) und Richard Ringer (2016 EM-Dritter) die letzten deutschen Maßstäbe über 5000 Meter gesetzt haben.
Summa summarum: „Der Leichtathletik fehlt es in diesem Lande sicher nicht an Zuspruch. Sonst würden ja nicht so viele Menschen, wie bei uns, selber laufen. Aber es mangelt zweifellos an gezielter journalistischer Unterstützung. Dass heute in ganz normalen Sportredaktionen noch Leichtathletik-Experten sitzen, die analysieren können, warum etwas passiert oder nicht geschehen ist, das ist ja nicht der Regelfall,“ sagt Dieter Baumann.
Deshalb sei das, was sich bei den einst so glorreichen deutschen Mittelstreckenläufern zuträgt, nicht anderes als eine ganz normale Zeiterscheinung.
Es ist also, leider, keineswegs aus der Zeit gefallen.
Klaus Blume
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