Er setzte den Zustand der Europa-Leichtathletik mit der aktuellen Finanzkrise gleich
Die Depression der Leichtathletik in Europa – Wenn Europa stirbt, stirbt die Leichtathletik. Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung
München – Nahezu ein Jahrhundert war Europa das Antriebsaggregat der Leichtathletik. Vier Jahre nach der globalen Zeitenwende 2000 jedoch begann seine Kraft zu erlahmen. Vorläufiger Höhepunkt des Niedergangs sind die Olympischen Spiele in Peking gewesen. Dort ließ die Konkurrenz aus Übersee europäischen Athleten nur noch 55 Medaillen (39 %) übrig.
Bei der Weltmeisterschaft 2003 (71 Medaillen) und den Spielen 2004 (68) hatte die Bilanz, trotz bereits sichtbarer Unebenheiten, zu Sorge noch nicht Anlass gegeben. Nun aber mehren sich die Bedenkenträger. Am weitesten ging bisher der Brite Tony Ward, einstiger Mediendirektor des britischen Verbands, mit einer Warnung an den Weltverband IAAF. Der sei von einer „schrecklichen Selbstzufriedenheit, die nicht auf den Sportlern und der Leichtathletik basiert, sondern auf den kommerziellen Möglichkeiten. So lange das Geld rollt, scheint für die IAAF alles rosig zu sein. Aber: Wenn Europa stirbt, stirbt die Leichtathletik“.
Auch was der italienische Intimkenner der Szene, Luciano Barra, am vergangenen Wochenende bei der European Athletics Convention des kontinentalen Verbands EAA in Amsterdam zum Besten gab, hörte sich wenig erbaulich an. Er setzte den Zustand der Europa-Leichtathletik mit der aktuellen Finanzkrise gleich. Die EAA hatte den Mann aus der Toskana nach Holland eingeladen, um dessen Einschätzung der Situation den Delegierten der Mitgliedsländer näher zu bringen.
Barras Thema: „Europas Verband gegen die Depression der Leichtathletik“. Seine Thesen: Die TV-Einschaltquoten bei Olympischen Spielen, WM und EM im Zeitraum 2002-2007 gehen bei den sechs wichtigsten Euro-Ländern (GBR, GER, FRA, ITA, ESP, RUS) um 142 Millionen zurück; nur noch in Großbritannien war die Leichtathletik während der Peking-Spiele TV-Sport Nummer eins bei den Zusehern; die Golden League, wichtigstes Ein-Tages-Meeting, wird kaum noch übertragen; Sender versuchen, Verträge zu beenden oder erschweren den Neuabschluss; Sponsoren verlassen die Leichtathletik.
Als Grund für das nachlassende Interesse wird an erster Stelle der vom Dopingmissbrauch verursachte Schwund der Glaubwürdigkeit genannt. Barra verweist auf 18 Fälle vor und während der Peking-Spiele hin. „Das ist mehr als im Radsport“, stellt er fest und fragt, ob das nicht die Konsequenz einer auf Geld und Rekorden ausgerichteten Politik des Weltverbands ist – statt einer, die auf Siege und Nationalstolz setzt?“
Weitere Stichpunkte aus dem Schwarzbuch des Unbehagens: Die unübersichtliche und daher für das breite Publikum uninteressante Struktur der Eintages-Meetings, das zum Teil nicht mehr taugliche Regelwerk für technische Disziplinen bei diesen Meetings, ihre Überschwemmung mit Läufern aus Übersee, die zur Ver-drängung der Euro-Konkurrenz führt und die so noch weiter abkoppelt von der Weltelite: In Peking gewannen Europas Männer nur Medaillen in den Laufwettbewerben!.
Das ehemalige EAA-Councilmitglied Barra hat in Amsterdam freilich nicht nur schwarzgemalt. Er zeigte auch Auswege „aus der Depression der Leichtathletik“ auf. Es gäbe durchaus positive Trends im Europaverband, die nur verbessert und bekannt gemacht werden müssen. Er forderte die EAA auf, die Führerschaft zu übernehmen, ihr zu folgen und zu „hoffen, dass sie die richtige Koordinierung mit der IAAF findet und die richtigen Schritte einleitet“.
Wie in der aktuellen Finanzkrise sei jetzt „die Zusammenarbeit der Entscheidungsträger“ notwendig, es dürfe „nicht jeder nur an sich selbst denken“.
Dass sein Verband begriffen hat und bereit ist, die europäische Leichtathletik zu entrümpeln, ließ EAA-Präsident Hansjörg Wirz (Schweiz) in Amsterdam erkennen. Er forderte „eine klare Strategie für die Führerschaft“. Die muss indes schnell aus der Verpackung wohlfeiler Reden heraus, um dann sichtbar zu praktikablen Neuerungen zu führen. So wird ein Vorhaben der Europäer, wie die Zusammenarbeit mit der Unesco, um die Jugend zurückzugewinnen, nur dann erfolgreich sein, wenn das Angebot der Leichtathletik endlich den verwelkten Charakter einer Dorfkirmes verliert.
Ansonsten wird wohl nichts aus der Vision von Wirz: „Millionen mehr Europäer sollen die Leichtathletik zu ihrem Sport fürs Leben wählen“.
Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung, Mittwoch, dem 22. Oktober 2008
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