Jedem Körper droht irgendwann der Verfall durch das Alter. Das weiß auch Murakami zu genau. Da ist gleichsam ehrlicher Umgang mit sich selbst gefragt. Er beschreibt das ganz und gar nüchtern jetzt so: „Die Zeit, die ich laufe, spielt keine Rolle für mich. Ganz gleich, wie sehr ich mich anstrenge, ich werde nie mehr so laufen wir früher“
Die Buchbesprechung von Prof. Dr. Detlef Kuhlmann: Facetten der Laufliteratur – Dieter H. Jütting – Haruki Murakami – Werner Sonntag
Dieter H. Jütting (Hrsg.): Wer läuft denn da? Studien zur Laufbewegung. Münster 2007: Waxmann. 236 S.; 24,90 €
Haruki Murakami: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede. Köln 2008: Dumont. 166 S.; 16,90 €
Werner Sonntag: Bieler Juni-Nächte. Facetten eines Laufjubiläums. Ostfil-dern 2008: Verlag Laufen und Leben. 152 S.; 14 €
Die moderne Laufbewegung produziert beiläufig und unaufhörlich gebundene Texte. Die meisten Bücher sind dem Genre der Anleitungs- bzw. Ratgeberliteratur zuzuordnen – frei nach dem Motto: Wie laufe ich „richtig“ und „schneller“?
Daneben haben sich mit fließenden Übergängen längst weitere Facetten auf dem Markt etabliert, die sich neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Phänomens der Laufbewegung im weitesten Sinne als lauf-literarische Produktionen subsumieren lassen. In dieser kleinen Sammelbe-sprechung sollen drei aktuelle Beispiele vorgestellt und kritisch gewürdigt werden. Hier geht es zum einen um die kultur- bzw. sozialwissenschaftliche Betrachtung und zum anderen um die narrative Perspektive der Lauflitera-tur.
Der Band mit „Studien zur Laufbewegung“, den der (inzwischen emeritierte) Münsteraner Sportsoziologie Dieter H. Jütting herausgegeben hat, versammelt insgesamt acht höchst unterschiedliche und gleichermaßen interessante Beiträge, die von vier Autoren und vier Autorinnen verfasst wurden. In seiner knappen Einleitung konstatiert Jütting einmal mehr, dass das „Laufen in seinen vielfältigen Ausprägungen“ längst „zu einem vertrauten Alltagsphänomen geworden“ ist, insbesondere in „reicheren Gesellschaften, in denen harte körperliche Arbeit, die Beanspruchung der Alltagsmotorik, nur noch eine geringe Rolle spielt und die stattdessen durch Bewegungsmangel und dem bekannten Anstieg der Zivilisationskrankheiten gekennzeichnet ist“ (S. 7).
Die im Buchtitel gestellte Frage „Wer läuft denn da?“ differenziert er mit Blick auf die vorliegenden Beiträge in diese Fragen: „Wer sind nun diese aktiven, gesundheitsbewussten Zeitgenossen, wie viele sind es eigentlich, wo laufen sie und warum?“ (S. 7). Es werden demnach Marathonlaufende, aber auch Anfänger und Anfängerinnen in den Blick genommen; ebenso zielen Beiträge weitergehend auf das Management von Volksläufen als Wettkampf-Event.
Die acht Beträge sind umrahmt von zwei Essays am Anfang und am Ende: Jütting selbst eröffnet die Reihe mit „Joggend auf den Spuren der Skulpturen. Zum Verhältnis von Politik, Kunst und Sport im öffentlichen Raum“. Der Aufsatz „spielt“ in Münster, wo eine Gruppe über zwei Stunden laufend unterwegs ist und dabei Skulpturen (von Henry Moore über Claes Oldenburg bis Jenny Holzer) begegnet …
Diese laufende Erschließung eines Laufraumes sei durchaus zur Nachahmung anderswo empfohlen! Das Alleinstellungsmerkmal des Essays von Jütting besteht jedoch darin, dass er sehr geschickt drei „kulturelle“ Erzählebenen fließend miteinander verbindet: die der urbanen Laufbewegung bzw. der Bewegungskultur, sodann die des urbanen öffentlichen Raumes und schließlich die der modernen Kunst. Dabei herausgekommen ist ein verbales Kunstwerk.
Dieses Prädikat kann auch der Beitrag von Hans-Jürgen Schulke für sich in Anspruch nehmen. Schulke schreibt vordergründig einen „Lebenslauf: Ikarus im Vorübereilen“: Er erinnert an die Last des Menschseins im Übergang von der Transit- zur Transportgesellschaft, der ein Stück „an somatischer Selbstvergewisserung“ (S. 117) verloren gegangen ist, um sodann kompensatorisch das „Eros des Laufes“ als „unverzichtbares Aphrodisiakum“ (S. 119) neu zu entdecken.
Er zeichnet nach, wie sich in den letzten 20 Jahren „eine virulente Dienstleistungsbranche“ rund um das Laufen etabliert hat, deren „Prozesse zur Industrialisierung der Laufbewegung“ (S. 120) schließlich unübersehbar geworden sind. Schulke verschont auch nicht den Deutschen Leichtathletik-Verband mit verbaler Schelte, denn an ihm „drohen die Massen und die Zeit vorbeizulaufen“ (S. 121). Die aktuelle Laufbewegung ist längst zum „Eventtourismus als Selbstläufer“ (Überschrift von Kap. 6) aufgelaufen, wo neben den großen Stadtmarathons (z. B. New York, Berlin) sich massenhaft Firmenläufe (sogar mit 60.000 Teilnehmern) als „neues Element“ (S. 123) abzeichnen und so gleichfalls „zu kollektiven Orten des Erinnerns“ (S. 123f.) werden.
Am Ende verrät Schulke, wie es gelingt, „durch das Laufen das Leben ein gutes Stück zu verschönern“ (S. 124). Laufen als Lebenskunst lässt grüßen!
Was bringen die weiteren (wissenschaftlichen) Beiträge? Ulrike Müller referiert Ergebnisse einer Studie über „Marathon im Lebenszusammenhang von jungen Frauen in Deutschland und England“, während Simone Reinermann über eine „Teilnehmerstudie zu einem Marathonvorbereitungsprogramm“ berichtet. Jürgen Schwark stellt Daten über „Regionalwirtschaftliche Effekte des Karstadt-Ruhr-Marathons“ (mit Start in Oberhausen und Dortmund und dem gemeinsamen Ziel in Essen) auf der Grundlage einer Zuschauer- und Aktivenbefragung dar, während Sarah Stickdorn „Eine qualitative Studie zum Marathonlauf als Freizeitsport“ präsentiert, in der sie nach der Auswertung von fünf Interviews eine viergliedrige Typologie des Marathonläufers bzw. der Marathonläuferin in der modernen Laufbewegung entwirft.
Danach gibt es den Herrn „Sport“, den Herrn „Lauftreff“, den Herrn „Leistung“, ferner die „Frau Selbstbewusstsein“ sowie die „Frau Ehrgeiz“. In ihrer fallübergreifenden Zusammenfassung diskutiert sie aus soziologischer Sicht zwei Muster zum geläufigen Marathoneinstieg: „Einerseits erweist sich der Marathon als Anknüpfungspunkt an eine leistungssportliche Vergangenheit, andererseits wird die gruppendynamische Wirkung von Laufgruppen deutlich“ (S. 85).
Bleiben noch zwei Beiträge, die sich mit Laufevents speziell in Münster beschäftigen, deren lokale Erträge aber durchaus in einen Zusammenhang mit anderen Laufveranstaltungen gestellt bzw. auf diese übertragen werden können. Bernd Schulze schreibt über „Organisation und Teilnehmerstruktur von Volksläufen“ am Beispiel des „Leonardo-Campus-Run“, der im Jahr 2000 im Rahmen eines Projektseminars mit Sportstudierenden der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entstanden ist und dessen Aktivenzahlen von anfänglich 651 auf zuletzt 1.700 (im Jahre 2007) angestiegen ist. Der Lauf (mit Distanzen über 444 m, 2,5 sowie 5 und 10 km) ist ursprünglich konzipiert worden als universitäres Ereignis mit Studierenden und Bediensteten als erste und wesentliche Zielgruppe.
Insofern könnten jetzt andere Universitäten und Hochschulen, resp. die Sportinstitute auf die Idee kommen, einen ähnlichen Lauf zu kreieren, sofern sie nicht selbst schon einen eigenen etabliert haben (z. B. das legendäre Finnbahnmeeting als Staffellauf über 10 km für zehn Personen an der Universität Bielefeld, das seit über 25 Jahren stattfindet). Die Lektüre des Beitrags von Schulze kann eine gute Anregung zur Durchführung bzw. zur Erfindung von neuen Läufen sein, auch wenn für mich wichtige Fragen offen geblieben sind: Haben sich die Bediensteten der Universität als Zielgruppe bei diesem Lauf etwa gänzlich verabschiedet?
Denn: Weder in der Teilnehmerbefragung (vgl. Tab. 3) noch in den Schlussbemerkungen (vgl. S. 115) tauchen sie auf, wo u. a. von der „Zielgruppenerreichung“ die Rede ist. Auch hätte ich gern gewusst, ob der Lauf tatsächlich auf Dauer gestellt immer noch im Rahmen einer Projektveranstaltung mit Studierenden organisiert wird? Zudem könnte es für die Leserschaft von Interesse sein zu erfahren, wann genau (während des Sommer-semesters?) dieser Lauf stattfindet – mehr noch: Gibt es gar einen idealen Wochentag bzw. -abend?
Eine Antwort darauf liefert der Text von Schulze leider nicht, aber (wie schön!) der von Dieter H. Jütting und Stefanie Tiedke mit dem Titel „Der Volkslauf ‚Rund um das Schloss’: Portrait eines Laufevents“. Hier ist der beiläufige Hinweis zu finden, dass der Leonardo-Campus-Run „im Mai bzw. im Juni“ (S. 90) stattfindet. Der Beitrag von Jütting und Tiedke gibt differenzierte Einblicke in die Genese, Entwicklung und in die Mache dieses bekannten Münsteraner Laufes rund um das Schloss.
Im hinteren Teil wird eine Analy-se der erzielten Zeiten durch Auswertung der Ergebnislisten vorgelegt, die im Kern die oft getroffene Alltagsbeobachtung bestätigt, dass die Zeiten der Laufaktiven mit den Jahren immer langsamer geworden sind – oder anders ausgedrückt: Obwohl immer mehr Menschen zum (wettkampfmäßigen) Laufen finden, werden dadurch die Zeiten nicht automatisch schneller. Diese Feststellung wiederum lässt Rückschlüsse auf die Ausweitung bzw. die Verschiebung der Laufmotive der Laufaktiven zu. Die von Jütting im Buchtitel gestellte Frage ließe sich demnach ausdehnen mit: „Warum laufen die da?“
Der Japaner Haruki Murakami gilt auch bei uns als bekannter, weil viel gelesener japanischer Schriftsteller (u. a. „Wilde Schafsjagd“, „Blinde Weide, schlafende Frau“, „Afterdark“). Haruki Murakami ist Langstreckenläufer. Er weiß also sehr genau, worüber er redet, wenn er vom Laufen redet. Darüber hat er jetzt ein Buch geschrieben, das nun als deutsche Übersetzung (von Ursula Gräfe) vorliegt. Er bezeichnet seine Aufzeichnungen pauschal als „Lebenserinnerungen“. Dabei will er uns ein wenig von seinen „Erfahrungen als Langstreckenläufer“ mitteilen.
Das regelmäßige Laufen hat der mittlerweile 60-jährige Haruki Murakami mit 33 Jahren für sich entdeckt. Seitdem legt er meist täglich eine 10-km-Runde im lockeren Sechserschnitt (d. h. einen Kilometer in ungefähr sechs Minuten) zurück und ist auch durchgängig bei Wettkämpfen dabei. Marathonläufe in Athen, New York, Boston, Honolulu etc. hat er schon gefinisht und er hat – wie er selbst sehr früh im Buch bekennt – durch Training und Teilnahme an Läufen die Messlatte nach und nach immer ein Stückchen höher gelegt, um schließlich zu der wichtigen Erkenntnis zu gelangen, nach einem Lauf am meisten stolz auf sich selbst zu sein.
Nur der Vergleich mit sich selbst (welch „laufpädagogische“ Erkenntnis!) ist für ihn das Maß aller Dinge: „Mir kommt es lediglich darauf an, ob ich besser war als gestern, mich selbst übertroffen habe. Der einzige Gegner, den es beim Langstrecken-lauf zu überrunden gilt, ist die eigene frühere Person“.
Damit sind das tragende Motiv und der hohe Stellenwert der täglichen Laufgewohnheit im alltäglichen Leben des Schriftstellers Murakami bereits prägnant markiert. Bleibt nur die Frage, wie das alles zu seiner hauptsächlichen beruflichen Tätigkeit, dem kontinuierlichen Schreiben von Romanen passt. Geht es ihm vielleicht so ähnlich wie jenem langlaufenden Schriftsteller Günter Herburger (u. a. „Lauf und Wahn“, „Traum und Bahn“), der von sich behauptet, dass ihn nur lange Strecken beim Laufen und lange Strecken am Schreibtisch am Leben halten?
Murakami grenzt Laufstrecke und Schreibtisch anders ab, obwohl er zugibt, dass ihm beim Laufen „immer viele Gedanken über das Schreiben“ kommen. Gleichzeitig gibt er zu, „dass Schreiben eine ungesunde Tätigkeit ist“. Seine These lautet: Wer Romane schreibt und dazu eine Geschichte konzipiert, muss tief im Innern des menschlichen Wesens eine Art Gift absondern. Jeder Schriftsteller wird mit diesem Gift konfrontiert und muss dann mit einem Immunsystem dagegen halten: seine eigene körperliche Kraft – Murakami (nicht) ganz Juvenal: „Ein ungesunder Geist braucht einen gesunden Körper“. Laufen als körperliche Kompensation für eine geistige Schräglage?
Jedem Körper droht irgendwann der Verfall durch das Alter. Das weiß auch Murakami zu genau. Da ist gleichsam ehrlicher Umgang mit sich selbst gefragt. Er beschreibt das ganz und gar nüchtern jetzt so: „Die Zeit, die ich laufe, spielt keine Rolle für mich. Ganz gleich, wie sehr ich mich anstrenge, ich werde nie mehr so laufen wir früher“. Für ihn kommt es vielmehr darauf an, die persönliche Vitalität zu erhalten, dabei die selbst gesteckten Ziele zu erreichen und einen Marathon mit eigener Zufriedenheit und mit Freude zu vollenden.
Der „Sinn eines Marathons besteht darin, Freude zu haben. Warum sonst sollten zehntausende von Menschen 42 Kilometer am Stück laufen?“. Dazu passt am Ende aus seinem vierseitigen Nachwort („Auf den Straßen der Welt“) die schöne Widmung, gerichtet an alle Läuferinnen und Läu-fer, „denen ich auf meinem Weg begegnet bin, die ich überholt habe und die mich überholt haben. Wenn ihr nicht gewesen wärt, wäre ich vielleicht nie weitergelaufen“. Wer wollte sich nicht von dieser Botschaft des Haruki Murakami angesprochen fühlen und am liebsten mit ihm zusammen weiterlaufen?
Der 82jährige Werner Sonntag (wohnhaft in Ostfildern bei Stuttgart) gilt hierzulande als der „Nestor der Laufliteratur“. Der früher beruflich als Journalist tätige Sonntag wurde Insidern schon vor mehr als 30 Jahren bekannt mit seinem „Irgendwann musst du nach Biel“, in dem er vordergründig jenen nächtlichen 100-km-Lauf im schweizerischen Biel beschreibt. In diesem Klassiker der Laufliteratur erzählt Sonntag einfühlsam und spannend, wie er aus der Dunkelheit seiner selbst herausläuft – denn: „Schreiben ist Erinnerung. Laufen Gegenwart“. Sonntag hat damals schon das Bild vom „Lauf nach innen“ geprägt und dabei die Vorstellung von „der inneren Stimme“ ausgeweitet: „Deine innere Stimme ist integriert, deine Widersprüche lösen sich auf. Du bist integriert in einen Körper, der läuft. Der Denken und Fühlen bestimmt. Der ein Ziel hat“.
Zurück zum jüngsten Werk „Bieler Juni-Nächte“: Dieser Lauf in Biel gilt als die „Mutter“ des Ultralangstreckenlaufes in Europa und ist im letzten Jahr 50 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass widmet ihm Sonntag sein Werk, das er als „Facetten eines Laufjubiläums“ betitelt. Der Begriff Facetten klingt einerseits ziemlich unaufdringlich und lässt andererseits auf ganz unterschiedliche literarische Bauformen schließen, die der Autor hier auf 156 Seiten mit 66 bunten Fotos aus fünf Jahrzehnten zusammenbindet.
Das Buch zeichnet am Anfang die Bieler Laufgeschichte nach und stellt sie in einen Zusammenhang mit der Entstehung der internationalen Langlaufbewegung. Biel „hat einen neuen Typ des Wettbewerbs geschaffen, den Erlebnislauf, das persönliche Abenteuer“, was „aber für jedermann kalkulierbar ist“, zumal dieses Abenteuer „in der psychischen Auseinandersetzung mit der Herausforderung, aber auch in der aktiven Wahrnehmung der Natur und ihrer Erscheinungen, vielleicht auch einmal einem Zustand wie in Trance, andererseits der Kommunikation unter Sportlern und mit Zuschauern, kurz in der ‚Ambiance’, wie das im schweizerischen Idiom genannt wird“, steht.
Und es besteht offensichtlich ein eklatanter Unterschied zum Marathonlauf, wo es passieren kann, dass man sein selbst gestelltes Ziel (Bestzeit, Vierstunden-Marke etc.) kläglich verfehlt. Nach Sonntags Erfahrungen „findet man am Ziel in Biel keinen wirklich enttäuschten Teilnehmer“ (S. 11).
Werner Sonntag, der 1966 auf ärztlichen Rat zum Laufen kam und seitdem zum andauernden Volksläufer generell und zum ausdauernden Ultralangstreckenläufer speziell avancierte, hat erstmals im Jahre 1972 am 100-Kilometer-Lauf von Biel teilgenommen und es auf nunmehr 33 (!) Teilnahmen gebracht. So gesehen kann das Werk per se als eine Chronik des Laufes, aber auch als eine Teil-Biografie des Autors gelten.
Das originelle Werk will so ganz nebenbei auch noch „Ein Ratgeber für Erststarter“ sein. So steht es jedenfalls ganz unten auf der Coverseite. Inwiefern das Buch tatsächlich diese „laufpädagogische“ Funktion zu erfüllen in der Lage ist, kann eigentlich nur im späteren Selbstversuch verlässlich bestätigt werden oder nicht. Ferner gilt: Alle, die schon mal in Biel dabei waren, und alle, die niemals vorhaben, dort an den Start zum Lauf durch die Nacht (Start ist immer um 22 Uhr!) zu gehen, werden dieses ebenso informative wie unterhaltsame Buch nicht nur „in einem Atemzug“ durchblättern … mehr noch: Wer das Buch „richtig“ zu lesen beginnt, der wird sogleich die Höhen und Tiefen dieses Laufes kennenlernen, sich quasi mental auf die Strecke begeben und die Stationen durchlaufen und all die Strapazen durchleiden können.
Die verschiedenen „Facetten eines Laufjubiläums“ sind vorn im Inhaltsverzeichnis in 13 Ein-Wort-Überschriften (z. B. Ursprung, Laufstrecke, Bewältigung) angekündigt: Der Verfasser beginnt mit der Bedeutung („Was hat den 100-Kilometer-Lauf von Biel so einzigartig gemacht?“), nennt die (Sieger-)Namen und (Sieger-)Zeiten („In 37 Jahren von 13:45 auf 6:37:59 Stunden“), spart weder das Wetter („Von 4 bis 34 Grad ist alles möglich“) noch Unvorhergesehenes („Was alles passiert ist“) aus und endet schließlich mit den Emotionen („Biel lässt keinen unberührt“).
Eine weitere Facette ist das Training, dem er ebenfalls ein eigenes Kapitel widmet, allerdings mit dem reichlich ernüchternden Vorab-Fazit: „Für 100 Kilometer gibt es kein Patentrezept“ (Unterüberschrift des Kapitels). Wem das nicht reicht, dem hilft vielleicht eine bewährte „Sonntags-Weisheit“ weiter für die von ihm empfohlene neunmonatige intensive Vorbereitungszeit: „Wichtiger als Trainingsfortschritte scheint mir zu sein, sich dauerhaft die Freude an der Leistung zu erhalten“.
Und was die zu erwartende Leistung beim 100-Kilometer-Lauf anbelangt, gilt auch für Sonntag die alte Faustregel: die persönliche Marathonzeit zu verdreifachen. Dennoch ist grundsätzlich Vorsicht angesagt, und das primäre Trainingsprinzip („Wöchentlich eine längere Trainingseinheit“) muss genauso eingehalten werden wie speziell für Biel ein sekundäres – nämlich: „Einmal nachts laufen“!
Prof. Dr. Detlef Kuhlmann (Leibniz Universität Hannover) im Heft 2/2009 der Zeitschrift SPORTWISSENSCHAFT
Dieter H. Jütting (Hrsg.): Wer läuft denn da? Studien zur Laufbewegung. Münster 2007: Waxmann. 236 S.; 24,90 €
Haruki Murakami: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede. Köln 2008: Dumont. 166 S.; 16,90 €
Werner Sonntag: Bieler Juni-Nächte. Facetten eines Laufjubiläums. Ostfil-dern 2008: Verlag Laufen und Leben. 152 S.; 14 €